Folter und schwere Übergriffe in Schweizer Asylzentren

Die Sicherheitsfirmen Securitas AG und Protectas AG sind nach Untersuchungen von Amnesty International in schwerste Übergriffe auf Schutzsuchende in Schweizer Asylzentren verwickelt.

In einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit dem Titel „Ich verlange nur, dass sie Asylsuchende wie Menschen behandeln“ wird schwerste Gewalt gegen Schutzsuchende in Schweizer Asylzentren ans Licht gebracht. Insbesondere unbegleitete Minderjährige sind von Gewalt, willkürlichen Strafen und Misshandlungen durch Mitarbeitende der Sicherheitsfirmen Securitas AG und Protectas AG betroffen.

Die in dem Bericht beschriebenen Misshandlungen fanden zwischen Januar 2020 und April 2021 in den Zentren Basel, Giffers, Boudry, Altstätten und Vallorbe statt. Die Informationen im Briefing basieren auf Interviews mit 32 Personen, darunter 14 Misshandlungsopfern und 18 aktuellen und ehemaligen Sicherheitsangestellten, Rechtsvertreter:innen, Betreuer:innen und Sozialpädagog:innen, die Zeug:innen der Übergriffe waren. Unterstrichen werden die Berichte von ärztlichen Berichten, Strafanzeigen und anderen relevanten Informationen und Dokumenten.

Fälle können Tatbestand von Folter erfüllen“

Die von AI befragten 14 Asylsuchenden, darunter zwei Kinder, berichteten von Schlägen und anhaltender Gewaltanwendung, die ihre Atmung stark einschränkte und sogar einen epileptischen Anfall herbeiführte. Weiterhin liegen Berichte von massivem Einsatz von Pfefferspray vor, der zur Ohnmacht der Betroffenen führte. Andere wurden in einen Metallcontainer gesperrt und dadurch gezielt unterkühlt oder auf verschiedene Weise misshandelt. Sechs der Betroffenen befanden sich aufgrund der erlittenen Gewalt in stationärer Behandlung. AI spricht von schwerem Missbrauch, der in einzelnen Fällen den Tatbestand der Folter oder anderer Misshandlungen erfüllen und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz verletzen könnte.

Misshandlungen können nicht weiter als Einzelfälle betrachtet werden“

Die AI-Juristin Alicia Giraudel erklärt: „Die Berichte über Misshandlungen, die wir von Opfern – darunter auch Kinder – sowie aktuellen und ehemaligen Sicherheitsangestellten und anderen Fachleuten, die in den Zentren arbeiten, gehört haben, sind zutiefst besorgniserregend. Neben den Beschwerden über körperliche Verletzungen, Misshandlungen und Bestrafungen haben wir auch von Feindseligkeit, Vorurteilen und Rassismus gegen Menschen in den Zentren erfahren, insbesondere gegen solche nordafrikanischer Herkunft. Die Situation, die wir in diesem Bericht beschreiben, ist alarmierend. Wir begrüßen zwar die jüngste Zusage des Staatssekretariats für Migration, eine externe Untersuchung einzelner Missbrauchsvorwürfe durchzuführen, die Resultate unserer Recherche zeigen aber, dass die Behörden diese Misshandlungsvorfälle nicht weiter als Handlungen einzelner ‚Übeltäter’ betrachten können. Das SEM muss stattdessen dringend systemische Mängel angehen und Maßnahmen ergreifen, um Misshandlungen zu verhindern, rassistischen Missbrauch abzuwenden und die Menschenrechte von Asylsuchenden in den Bundesasylzentren zu schützen.“

Anweisung, schnell zu Gewalt zu greifen

AI berichtet weiter, die Mehrheit der befragten Sicherheitskräfte habe insbesondere auch die Ausbildung des Wachpersonals kritisiert. Insbesondere hätten sich diese schockiert über die Anweisungen von Vorgesetzten, schnell zu Gewalt und Zwangsmaßnahmen zu greifen gezeigt. Insbesondere der Einsatz von „Besinnungsräumen“ sei „bedenklich“. Schutzsuchende hatten berichtet, wie sie in einen „Besinnungsraum“ oder einen anderen separaten Raum gebracht wurden, wo sie entweder anschließend vom Sicherheitspersonal geschlagen wurden oder die Schläge, die draußen begonnen hatten, im Raum fortgesetzt wurden. Zwei von Amnesty International befragte Betreuer:innen erzählten ebenfalls – unabhängig und ohne Aufforderung – wie sie Zeug:innen davon wurden, wie Menschen gewaltsam in den „Besinnungsraum“ gebracht wurden, aus dem sie anschließend mit Verletzungen herauskamen.

Aggressives Verhalten von Wachpersonal wird toleriert oder gar gefördert“

Die befragten Mitglieder des Sicherheitspersonals teilten der Menschenrechtsorganisation ihre Bestürzung darüber mit, dass aggressives, provozierendes und respektloses Verhalten bestimmter Wachleute gegenüber Asylsuchenden von ihren Vorgesetzten toleriert oder sogar gefördert wurde.

Am Gefrierpunkt in Metallcontainer gesperrt

Dem Bericht zufolge wird im Asylzentrum in Boudry ein außerhalb des Zentrums befindlicher Metallcontainer zur Bestrafung eingesetzt. Ein Bewohner dort berichtete Amnesty International, dass er an einem Nachmittag im Dezember 2020 von Sicherheitsangestellten in den Container gesperrt wurde, weil sie vermuteten, dass er getrunken habe. Er wurde an einem Tag, an dem die Außentemperaturen laut den Wetteraufzeichnungen für diesen Tag weit unter 0 Grad Celsius lagen, in den Container gesperrt. Der Container hatte keine Heizung und einige Zeit später musste der Betroffene ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem er in Ohnmacht gefallen war. Das medizinische Personal im Krankenhaus stellte fest, dass er ein Schädel-Hirn-Trauma hatte und an Unterkühlung litt.

Unbegleitete Minderjährige werden attackiert

Kinder und insbesondere unbegleitete Minderjährige befinden sich ebenfalls im Visier des Sicherheitspersonals. Ein unbegleiteter Minderjähriger, der sich Anfang 2020 in einem Bundesasylzentrum aufhielt, berichtete Amnesty International, dass er wiederholt von Sicherheitsangestellten geschlagen wurde. Er erklärte, dass er in einem Fall von Sicherheitsangestellten getreten wurde, bis er bewusstlos war: „Ich lag auf dem Boden und sie traten mich mit ihren Füssen in mein Gesicht, in den Bauch und überall hin. Ich blutete aus der Nase und wurde ohnmächtig. (....) Die Sicherheitsangestellten brachten mich in den Besinnungsraum und ließen mich dort bis zum Abend.“ In einem anderen Fall wurde der Minderjährige im „Besinnungsraum“ geschlagen und anschließend in die Kinderklinik eingeliefert, wo er behandelt wurde. Drei weitere Asylsuchende und eine betreuende Person, die in dem Zentrum arbeitete, berichteten Amnesty International ebenfalls, dass das Sicherheitspersonal den Jugendlichen wiederholt angegriffen habe. Verletzungen dieser Art könnten dem betroffenen Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Schmerzen oder Leiden zugefügt haben und daher nach den internationalen Menschenrechtsnormen Folter darstellen.