Folter in der Türkei: „Gewalt wird durch den Staat legitimiert“
Die Menschenrechtlerin Eren Keskin äußert sich zu dem Anstieg der Foltervorfälle in der Türkei. Für sie ist klar, der Staat legitimiert diese Gewalt.
Die Menschenrechtlerin Eren Keskin äußert sich zu dem Anstieg der Foltervorfälle in der Türkei. Für sie ist klar, der Staat legitimiert diese Gewalt.
Die Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte in der Türkei ist im Aufwärtstrend. Sowohl beim Umgang mit Demonstrierenden auf den Straßen als auch hinter den Mauern von Polizeistationen und Gefängnissen nimmt das Ausmaß der staatlichen Gewalt und Folter zu. Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, sieht hierin eine Rückkehr in die Türkei der 1990er Jahre, als im Rahmen des schmutzigen Krieges gegen die Kurd*innen Gewalt und Folter durch den Staat Teil des Alltags in der Türkei war. Die heutige AKP-Regierung habe sich mit den politischen Akteuren des sogenannten Tiefen Staates, die für jene dunkle Epoche verantwortlich waren, geeinigt und ein Bündnis geschlossen. Damit sei die Gewalt wieder zurückgekehrt, glaubt Keskin.
Keskin ist der Ansicht, dass vor allem darüber gesprochen werden muss, wie diese ausufernde Gewalt durch den Staat legitimiert wird und fügt an: „Wir sehen heute, wie Foltervorfälle, die Bilder von Foltereinwirkung gegen festgenommene Guerillakämpfer*innen durch staatliche Hand in den sozialen Medien verbreitet werden. Unter diesen Bildern können wir dann in den Kommentaren lesen, wie bestimmte Teile der Gesellschaft die Folter geradezu bejubeln.“
Folter betrifft die gesamte Gesellschaft
Die Menschenrechtlerin Keskin sieht in dieser gefährlichen Tendenz zugleich eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung in der Türkei. Dadurch steige die Gewalt besonders gegenüber Frauen, Kindern, Personen aus der LGBTI-Gemeinschaft und grundsätzliche allen diskriminierten gesellschaftlichen Kreisen an.
„Es gab beispielsweise lange keine Hinweise auf staatliche Folter unter Anwendung von Stromschlägen. Bei den Vorfällen in Xelfetî (Halfeti, Provinz Riha/Urfa) begegnete uns allerdings diese Foltermethode von Neuem. Uns sind Fälle bekannt, bei denen die Elektrofolter an den Geschlechtsorganen und den Brustwarzen von Frauen angewendet wurde. Das sind gängige Foltermethoden aus den 90er Jahren, die nun plötzlich wieder auftauchen. Aber wirklich wundern kann ich mich darüber leider nicht. Denn wir haben einen Innenminister im Land, der sich selbst als Sohn von Mehmet Ağar bezeichnet. Und Süleyman Soylu (jetziger Innenminister, Anm. d. R.) weiß sehr genau, dass keine Person so sehr für das dunkle Kapitel der 90er Jahre in der Türkei steht, wie der damalige Polizeichef und Innenminister Ağar“, erklärt Keskin.
Straflosigkeit für die Täter
Eren Keskin sieht eine weitere Ursache in dem Anstieg der staatlichen Gewalt in dem wachsendem Maß an Straflosigkeit für die Täter. Die Folterer genießen laut Keskin geradezu eine Immunität, was diese letztlich bei der Gewaltanwendung komplett enthemme. Das Istanbul-Abkommen der Vereinten Nationen (Recht auf ärztliche Begutachtung von Personen, die den Vorwurf erheben, gefoltert oder misshandelt worden zu sein, Anm. d. R.) finde in der Türkei keine Anwendung mehr, weil von Folter betroffene Menschen entweder gar nicht oder nur noch in Anwesenheit der Polizei von Ärzt*innen behandelt werden.
„Wir müssen die Angst überwinden“
Trotz der schwierigen Umstände ist Keskin allerdings davon überzeugt, dass die Gewalt- und Folteranwendung des Staates mit einem gesellschaftlichen Widerstand konfrontiert werden wird. Heute sei es nicht mehr möglich, solche Vorfälle wie in den 90er Jahren einfach unter den Teppich zu kehren. Gerade über die sozialen Medien könne laut Keskin die staatliche Folter umgehend auf der ganzen Welt publik gemacht werden.
Hoffnung schöpft die Menschenrechtlerin auch aus dem Ergebnis der Istanbuler Wahlen. Die Wahlergebnisse seien letztlich auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Reflexes gegen den rassistisch-chauvinistischen Machtblock im Land. „Ich hoffe, dass auch fortan die gesellschaftlichen Kreise hinter der CHP ihren Widerspruch gegen die Gewaltpraxis des Staates zum Ausdruck bringen. Es reicht leider nicht aus, alles von den Kurd*innen zu erwarten. Nur wenn wir gemeinsam laut sind, können wir diese Gewaltspirale durchbrechen. Auch muss die Türkei sich ihrer Vergangenheit stellen, denn ohne das zu tun, kann keine Demokratie in diesem Land einkehren. Und insgesamt müssen wir mutig sein. Denn wo die Furcht herrscht, haben wir es mit großen Problemen zu tun. Angst zu haben ist normal, aber wir müssen lernen, diese Angst auch zu überwinden", so Keskin abschließend.