Drohende Auslieferung an die Türkei
Ecevit Piroğlu befindet sich seit dem 12. Februar in serbischer Auslieferungshaft im Hungerstreik. Der kurdische Aktivist ist aufgrund von politischer Verfolgung aus der Türkei geflohen und hat in Serbien Asyl beantragt. Bei seiner Einreise am 24. Juni 2021 wurde er am Belgrader Flughafen auf Ersuchen des türkischen Staates festgenommen. Seitdem ist er mit kurzer Unterbrechung interniert, sein Asylgesuch wurde abgelehnt. Der ehemalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Staatschef Recep Tayyip Erdoğan haben bei Besuchen in Serbien vor der Presse die Auslieferung Piroğlus an die Türkei gefordert und Druck auf die serbische Justiz ausgeübt. Der serbische Geheimdienst BIA stuft Ecevit Piroğlu als Bedrohung der nationalen Sicherheit ein. Eine Auslieferung an die Türkei wurde dennoch gerichtlich in mehreren Instanzen abgelehnt.
Ecevit Piroğlu trat während des Auslieferungsverfahrens im Juni 2022 in einen Hungerstreik und verlor innerhalb von 136 Tagen dreißig Kilogramm Gewicht. Nach der endgültigen Aussetzung des Auslieferungsverfahrens durch den Obersten Gerichtshof beendete er den Widerstand. Am 12. Januar 2024 erließ das serbische Innenministerium eine aktualisierte Anordnung zum sofortigen Verlassen des Landes, woraufhin Piroğlu erneut in den Hungerstreik trat. Sein Antrag auf freiwillige Ausreise wurde nicht beantwortet. Momentan ist er in einem Abschiebezentrum interniert und kann einmal wöchentlich telefonieren. Piroğlu und seine Anwälte geben an, dass er rechtswidrig als „Geisel" festgehalten wird, obwohl es keine rechtlichen Voraussetzungen für seine Inhaftierung gibt. Während seines Hungerstreiks wird er nicht routinemäßig gesundheitlich untersucht, und er wird auf engstem Raum und unter ungesunden Bedingungen festgehalten.
Parlamentsabgeordnete aus der Türkei, darunter auch Mitglieder der Interparlamentarischen Freundschaftsgruppe zwischen der Türkei und Serbien, fordern die sofortige Freilassung von Piroğlu. In einem von siebenunddreißig Abgeordneten der Parteien DEM, EMEP und TIP unterzeichneten Schreiben an die serbische Botschaft wird der Gesundheitszustand von Ecevit Piroğlu als kritisch bezeichnet, es bestehe Lebensgefahr. „Aus welchem Grund wird Ecevit Piroğlu nicht freigelassen, wenn man bedenkt, dass Ihre Regierung und Ihre Justizbehörden seine Auslieferungsanträge an die Türkei entschieden abgelehnt haben?“, fragen die Abgeordneten. „Warum wird Piroğlu das Recht verweigert, Ihr Land offiziell zu verlassen, wie es in den internationalen Konventionen, denen Sie beigetreten sind, vorgeschrieben ist? Es gibt zwei verschiedene Entscheidungen Ihres Innenministeriums. Ist die Inhaftierung von Piroğlu unter unmenschlichen Bedingungen aufgrund der Unstimmigkeiten zwischen diesen beiden Entscheidungen Gegenstand möglicher politischer Verhandlungen mit der türkischen Regierung?“
Piroğlu sei aus dem Istanbuler Gezi-Widerstand und seinem Kampf gegen den IS in Rojava bekannt und müsse unverzüglich freigelassen werden, so die Abgeordneten: „Als politische Parteien und demokratische Organisationen, die Millionen von Menschen in der Türkei vertreten, verfolgen wir den Prozess genau und warnen Sie. Wenn Ihre Regierung weiter untätig bleibt, wird sie sich in der internationalen Öffentlichkeit für die nicht wiedergutzumachenden negativen Folgen rechtfertigen müssen. Beenden Sie die unrechtmäßige Inhaftierung von Ecevit Piroğlu, damit er seinen Hungerstreik beenden kann, und hören Sie auf, sein Recht auf Ausreise aus Ihrem Land zu blockieren!“
Wer ist Ecevit Piroğlu?
Ecevit Piroğlu wurde 1974 in der zentralanatolischen Stadt Kırşehir geboren, ursprünglich stammt er aus Ezirgan (tr. Erzincan). Politisiert in der Studierendenbewegung der neunziger Jahre, war er später für einige Zeit Vorstandsmitglied des international bekannten Menschenrechtsvereins IHD, der seit Jahrzehnten Folterungen in Haft, Polizeigewalt auf Demonstrationen und das „Verschwindenlassen“ linker und kurdischstämmiger Menschen in der Türkei anprangert. Aufgrund seines politischen Wirkens war Piroğlu mehrfach im Gefängnis.
Als aktiver Teilnehmer am Gezi-Aufstand 2013 und Geschäftsführer der Sozialistischen Demokratie-Partei (SDP) wurde er von der Regierung verstärkt ins Visier genommen. Im Juni 2013 fand eine staatliche „Racheoperation“ gegen die SDP aufgrund ihres federführenden Einsatzes bei Gezi statt, die Zentrale in Istanbul wurde von paramilitärischen Spezialeinheiten der Polizei überfallen. Piroğlu befand sich unter den 74 Personen, die damals brutal festgenommen wurden. Viele der damaligen Betroffenen wurden später im sogenannten „Revolutionäres Hauptquartier“-Verfahren („Devrimci Karargah”) zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Angesichts der Verhaftungen und massiven Verfolgung ihrer Führungskräfte war die SDP 2015 gezwungen, sich aufzulösen. Noch im selben Jahr entschied Piroğlu die Türkei zu verlassen, um einer jahrzehntelangen Gefängnisstrafe zu entgehen. Er ging nach Nordsyrien und schloss sich dem Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an. Im Juni 2021 reiste er nach Serbien, um politisches Asyl zu beantragen, und wurde noch am Belgrader Flughafen verhaftet. Grund dafür ist das Interpol-System, das die Türkei systematisch als Instrument zur Bestrafung ihrer politischen Gegner im Ausland missbraucht. Ankara führt Piroğlu in seiner „Roten Liste“ der meistgesuchten „Terroristen“, auf ihn wurde ein Kopfgeld von zehn Millionen TL ausgesetzt.
Im Oktober 2022 hob das Berufungsgericht in Belgrad die Entscheidung einer unteren Instanz auf, Ecevit Piroğlu an die Türkei auszuliefern. Der Aktivist befindet sich weiter in Haft – ein Verstoß gegen die Richtlinien des UN-Ausschusses gegen Folter, serbisches Recht und frühere Gerichtsurteile. In der Türkei drohen ihm mindestens dreißig Jahre Gefängnis.