Demirtaş: „Ich weiß, wir sind zu spät gekommen“

Selahattin Demirtaş, Ko-Vorsitzender der HDP, hat sich in einem Brief, der auf einer Gedenkveranstaltung zum Massaker von Roboskî verlesen wurde, an die Todesopfer gewandt: „Kinder, ich weiß, wir sind zu spät gekommen.“

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat zum sechsten Jahrestag des Massakers von Roboskî eine Gedenkveranstaltung im Kulturzentrum Şişli ausgerichtet, auf der ein Brief des HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş verlesen wurde. Demirtaş befindet sich seit November vergangenen Jahres in türkischer Haft.

Der Brief lautet:

„Liebe Freundinnen und Freunde,

Ihr seid zusammen gekommen, um derer zu gedenken, die wir bei einem der grausamsten Massaker der jüngeren Geschichte in Roboskî verloren haben. Ich grüße euch voller Sehnsucht.

Eines der wichtigsten Elemente des Kampfes für Demokratie, den wir führen, um den universellen Werten der Menschheit auch in unserem Land Geltung zu verschaffen, ist eine Konfrontation mit der Vergangenheit, bei der die Tatsachen ans Licht geholt werden.

Unsere Geschichte und unsere nähere Vergangenheit sind voller Genozide, Massaker, Vertreibungen und Vollstreckungen. Trotz des erlittenen Schmerzes haben wir es vorgezogen, unsere Wut in den Befreiungskampf einfließen zu lassen, damit alle Unterdrückten frei zusammenleben können, anstatt diese Wut für Rache und Hass zu nutzen. (…)

Als in Roboskî mittellose kurdische Jungen von Kampfflugzeugen bombardiert wurden, war ich gemeinsam mit unserer Ko-Vorsitzenden Gültan Kışanak am nächsten Morgen dort. Ich habe in meinem Leben, in meinem Beruf und innerhalb des Kampfes, den ich führe, schon sehr viele Tote gesehen. Ich war bei Autopsien und auf Beerdigungen. Immer haben die Angehörigen am meisten Schmerz empfunden. Beim Massaker von Roboskî war es jedoch anders. Nicht nur die Angehörigen empfanden Schmerz. Jeder, der nur über einen Funken Gewissen verfügte, litt unter diesem Schmerz und leidet immer noch.

Im Flur und in den Zimmern des Staatskrankenhauses Uludere habe ich einzeln die nach Diesel riechenden, in Decken gewickelten Leichen betrachtet. In einem leeren Krankenhauszimmer, in dem eine große Anzahl Leichen nebeneinander aufgereiht lag, blieb ich einige Minuten. Es fühlte sich an, als ob diese toten, in Decken gewickelten Jungen mir etwas sagen wollten, als ob ich sie wirklich hören konnte.

Sie sagten: ‚Wir sind getötet worden, du bist zu spät gekommen. Wir waren immer arm und haben immer gearbeitet. Unser einziges Verbrechen lag darin, dass wir zwischen zwei mit Stacheldraht getrennten Teilen unseres Landes hin und her gegangen sind, um Handel zu treiben. Unser Land ist in Teile zerrissen und jetzt sind wir es auch. Du bist zu spät gekommen, Vorsitzender, zu spät. Wir waren schon immer arm und wurden schon immer ermordet. Ihr habt dieses Problem nicht lösen können und wieder waren wir es, die gestorben sind. Herzlich Willkommen, aber ihr seid zu spät gekommen, Vorsitzender, zu spät …‘

Vielleicht glaubt ihr mir nicht, aber ich habe diese Worte gehört. Ich habe bestürzt und tief traurig neben meinen Geschwistern aus Roboskî geweint. In diesem Moment habe ich den Jungen dort versprochen, alles mir Mögliche zu tun, um Rechenschaft zu fordern und zu verhindern, dass wir noch einmal getötet werden.

Jetzt bin ich im Gefängnis Edirne. Ich bin hier, weil ich zu meinem Wort stehe. Um die Mörder von Roboskî zur Rechenschaft zu ziehen, sind wir bereit, auf unser Leben zu verzichten, aber auf diesen Kampf werden wir niemals verzichten.

Kinder, ich weiß, dass wir zu spät gekommen sind. Ihr habt Recht. Ihr habt mit allem Recht. Wir sind mindestens hundert Jahre zu spät. Aber ihr könnt ruhig schlafen. Gemeinsam mit Hunderttausenden großartigen Menschen dieses Volkes, von Efrîn bis Kobanê, von Hewlêr bis Mahabad, von Botan bis Amed und Serhat, alle zusammen geben wir im Angesicht derer, die wir durch diese Verspätung verloren haben, unser Wort für Freiheit und Frieden.

Der beste Weg, um diejenigen, die euch getötet, eure Gedenksteine zerstört und Ferhat, eines der überlebenden Kinder Roboskîs, in den Kerker geworfen haben, zur Rechenschaft zu ziehen, ist die Errichtung eines gleichen, würdevollen und gerechten Friedens. Ich weiß, wir werden es schaffen!

Ich grüße tausendfach all die großartigen Kinder meines Landes, die ermordet wurden, gefangen gehalten werden und Widerstand leisten. Ich verneige mich voller Respekt vor ihnen. Die Familien aus Roboskî, unser gesamtes Volk, unsere Freundinnen und Freunde umarme ich voller Sehnsucht und übermittle ihnen meine Grüße

Selahattin Demirtaş, Gefängnis Edirne"

ANF berichtete: