„Wir versprechen, den türkischen Staat zur Rechenschaft zu ziehen“

Kendal Çiya aus der Kommandantur der Şehîd-Mam-Zekî-Akademie erklärt, die Organisierung in der Şengal-Region wachse trotz der Angriffe weiter. Er warnt davor, dass das Chaos im Irak den Weg für neue Massaker ebnen würde.

Am 3. August jährt sich der Beginn des IS-Genozids an der ezidischen Bevölkerung der südkurdischen Şengal-Region zum achten Mal. Anlässlich des bevorstehenden Jahrestags äußert sich Kendal Çiya, Mitglied der Kommandantur der Şehîd-Mam-Zekî-Akademie, zu den aktuellen Entwicklungen in der Region und warnt vor neuen Massakern.


Das Volk ist bewusst und organisiert“

Kendal Çiya weist darauf hin, dass das gesamte kurdische Volk, insbesondere die Ezid:innen, seit acht Jahren einen schmerzhaften Prozess durchlebt und die Angriffe des türkischen Staats immer weiter gehen. Es gebe einen großen Krieg, aber auch gewaltigen Widerstand, sagt Çiya und fährt fort: „Das kurdische Volk ist nicht mehr wie früher, unser Volk ist bewusst und organisiert. Es kennt auch die wahren Ziele der anderen Staaten, die den türkischen Staat unterstützen. Es weiß, welche Staaten hinter den Massakern an ihm stehen.“

Tiefe Verbindung zwischen IS und Türkei“

Çiya erinnert an die Unterstützung des türkischen Staats für die IS-Invasion im Jahr 2014. Damals war der IS zunächst in Mossul eingefallen und hatte viele Menschen grausam ermordet, aber die Mitarbeiter des türkischen Konsulats wurden nach einiger Zeit, ohne ihnen ein Haar zu krümmen, dem türkischen Staat übergeben. Çiya führt weiter aus: „Alle drei bisher getöteten IS-Anführer befanden sich in den vom türkischen Staat besetzten und kontrollierten Gebieten. Das zeigt, wie tief ihre Beziehung ist. Auch andere Staaten sind sich dieser Beziehung bewusst. Wer die Augen verschließt und schweigt, unterstützt den faschistischen türkischen Staat.“

Der Organisierungsgrad der Menschen in Şengal steigt“

Çiya erinnert an den fluchtartigen Abzug von mehr als 20.000 schwer bewaffneten PDK-Peschmerga 2014 aus der Şengal-Region und kritisiert, die PDK setze ihre Linie der Kollaboration und des Verrats auch heute fort, während doch eigentlich eine aufrichtige Selbstkritik für ihre Rolle beim Genozid nötig gewesen wäre. „Unser Volk hat nach dem Genozid kein Vertrauen mehr in irgendwelche Staaten und Mächte. Die Mächte, die vor jedem Genozid versprochen hatten, unser Volk zu beschützen, haben uns verlassen und sind weggelaufen. Beim IS-Genozid haben die PDK-Peschmerga, die zuvor versprochen hatten, unser Volk zu schützen und zu verteidigen, nicht eine einzige Kugel abgefeuert und uns einem Massenmord ausgeliefert. Deshalb hat unser Volk seine Lektion gelernt und mit Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung seine eigenen Selbstverteidigungskräfte und eine Selbstorganisation aufgebaut. In diesem Rahmen wurden die YBŞ und YJŞ gegründet und die Demokratische Selbstverwaltung von Şengal wurde ausgerufen. Diese Organisation ist gewachsen und wird von der Bevölkerung immer weiter gestärkt“, so Çiya.

Die Organisierung soll zerschlagen werden“

Die PDK und andere kollaborierende Kräfte hätten das als Bedrohung empfunden und Angriffe vorbereitet, um die Selbstorganisierung in der ezidischen Bevölkerung zu zerschlagen. Çiya führt aus: „Unser Volk ist sich dieser schmutzigen Politik und Kollaboration bewusst. Aus diesem Grund setzt es sich ein und unterstützt seine eigenen Kräfte.“

Das Abkommen vom 9. Oktober ist eine Fortsetzung des Genozids“

Am 9. Oktober 2020 kam es zu einem von der Türkei orchestrierten Abkommen zwischen der PDK und der irakischen Regierung zur Aufteilung der Herrschaft über die selbstverwaltete Şengal-Region. Dies kommentiert Çiya: „Der 9. Oktober sollte den Abschluss des Massakers von 2014 bilden. Man wollte unser Volk vernichten. In diesem Sinne wurden die Vorreiter unseres Volkes ins Visier genommen. Dutzende unserer Freunde wie Mam Zekî, Saîd Hesen Saîd, Dijwar Feqîr, Heval Zerdeşt und Heval Azad wurden ermordet. In Sikeniyê wurde ein Massaker [Krankenhausbombardierung durch die türkische Armee] verübt. Die Kadhimi-Regierung protestierte nicht, schwieg und stimmte damit zu. Auf Befehl von Kadhimi griff die irakische Armee am 17. April Şengal an. Mit diesem Angriff sollten die Sicherheitskräfte der YBŞ, der YJŞ, der Êzîdxan Asayîş zerschlagen und die Selbstverwaltung von Şengal liquidiert werden. Durch den Widerstand unseres Volkes und der YBŞ, YJŞ und Asayiş konnte der Angriff vereitelt werden. Dieser Angriff der irakischen Armee wurde von der irakischen Bevölkerung nicht unterstützt. Das irakische Volk und einige Gruppierungen haben dagegen protestiert.“

Das irakische Volk benötigt Einheit“

Çiya warnt, dass wenn sich die Menschen im Irak nicht zusammenschließen, diese Massaker weitergehen werden: „Wenn wir als irakische Bevölkerung mit unserer eigenen Identität, Sprache, Kultur und unserem Glauben leben wollen, müssen wir das demokratische Leben der Völker im Einklang mit der Philosophie und dem Paradigma von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] gemeinsam gestalten. Dafür braucht die irakische Bevölkerung besonders in dieser Zeit mehr Einigkeit und Solidarität. So werden wir noch stärker werden.“

Die Situation im Irak öffnet den Weg für weitere Angriffe“

Mit Verweis auf die politische, militärische und wirtschaftliche Krise im Irak sowie auf die konfessionellen und ethnischen Widersprüche erklärt Çiya: „Vor etwa einem Jahr fanden im Irak Wahlen statt, aber es konnte keine neue Regierung gebildet werden. Diese krisenhafte und chaotische Situation ebnet den Weg für die Angriffe der Invasoren. Der Irak muss seine Krise beenden, indem er seine Probleme löst. Die Probleme sollten mit demokratischen Methoden und unter Wahrung der Rechte der Völker gelöst werden. Das Paradigma der demokratischen Moderne ist das vernünftigste Konzept dafür. Wenn man die Probleme nicht auf diese Weise angeht, werden sie sich verschärfen und unlösbar werden. So wird die Verwirklichung der Ambitionen ausländischer Mächte unterstützt. Das Massaker auf das Sommerressort in Perex steht symptomatisch für diese Situation. Der türkische Staat ist eine mörderische Besatzungsmacht. Wenn wir unsere Probleme nicht lösen können, werden Massaker wie in Sikeniyê, Sinûnê und Perex weitergehen.“

Die türkische Armee muss aus dem Irak abgezogen werden“

Çiya fordert: „Der türkische Staat muss seine Besatzungsarmee aus dem Irak abziehen. Als Angehörige des ezidischen Volkes und als YBŞ und YJŞ werden wir den Angriffen nicht gleichgültig gegenüberstehen und Rechenschaft für alle an unserem Volk begangenen Massaker fordern, insbesondere für den Genozid vom 3. August 2014. So wie wir den IS zur Rechenschaft gezogen haben, werden wir auch den türkischen Staat und seine Kollaborateure zur Rechenschaft ziehen. Das ist unser Versprechen an unsere Gefallenen und unser Volk.“