„Die einzige Lösung für Şengal ist die Selbstverwaltung“

Acht Jahre nach dem Genozid und Femizid in Şengal erklären Ezidinnen und Eziden, dass selbstbestimmte Strukturen für sie die einzige Lösung sind und sie nie wieder schutzlos sein wollen.

Seit dem Massaker, das der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) vor den Augen der Weltöffentlichkeit an der ezidischen Gemeinschaft in Şengal verübt hat, sind acht Jahre vergangen. Trotzdem leben Tausende Vertriebene noch immer weit von ihrem Land entfernt, und das Schicksal Tausender weiterer Ezidinnen und Eziden ist unbekannt. Die irakische Regierung hat bisher keine Schritte für die Rechte des ezidischen Volkes unternommen. Daher erklären ezidische Institutionen und Organisationen, dass sie niemandem vertrauen und die einzige Lösung für die Gemeinschaft Volk die Selbstverwaltung ist.

Als der IS am 3. August 2014 in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Menschen schutzlos den Islamisten. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützte zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Dschihadisten. Am 6. August kamen zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten in den ersten Tagen bereits rund 50.000 Ezid:innen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.

Nach dem Genozid und Femizid bauten die Ezid:innen eigene Verwaltungs- und Verteidigungsstrukturen auf. Diese wollen sie unter keinen Umständen aufgeben, um kein weiteres Massaker zu erleben. Vertreter:innen ezidischer Organisationen haben sich gegenüber ANF dazu geäußert.

Wetha Reşo ist Mitglied der ezidischen Frauenbewegung TAJÊ. Gefragt nach ihrer Meinung, erinnert sie zunächst an Toten des Massakers vom 3. August und erklärt dann: „Wir sollten genau wissen, wer während des Ferman [Massaker, Völkermord] auf unsere Schreie reagierte und wer uns verraten hat. Seit acht Jahren ist das Schicksal von Tausenden Menschen noch immer unbekannt. Wir müssen unseren Kampf verstärken, um die ezidischen Frauen und Mädchen zu retten, die vom IS weiterhin gefangen gehalten werden. Wir müssen alles für sie tun, was wir können. Als ezidisches Volk haben wir uns nun selbst anerkannt, so dass wir uns nie wieder auf diejenigen verlassen werden, die uns verraten haben. Wir werden uns noch mehr organisieren, um neue Massaker zu verhindern. Wir haben jetzt Stärke und einen Willen, haben Institutionen aufgebaut und Verteidigungskräfte aufgestellt. Beim Ferman hat sich weder die irakische noch die südkurdische Regierung um uns gekümmert. Die ganze Welt hat zu unseren Schreien geschwiegen, weil wir Eziden sind. Dank unserer heldenhaften Gefallenen, die uns damals zu Hilfe eilten, wurden wir vor dem Massaker bewahrt. Wir werden diejenigen, die ihr Leben für uns gegeben haben, nie vergessen, sie werden immer in unseren Herzen leben."

Das ezidische Volk sollte geeint sein“

Xelef Qasim, Mitglied des Demokratischen Autonomierats von Şengal, erinnert daran, dass nicht nur das Leben, sondern auch der Glaube des ezidischen Volkes angegriffen wurde: „Sie wollten die ezidische Gemeinschaft massakrieren und zerstören. Das war der Grund für das Massaker. Das ezidische Volk sollte vereint sein, wo immer es sich befindet. Alle Ezidinnen und Eziden sind wie Äste eines Baumes. Die Verschwörung gegen das Land, die Sprache, die Kultur und den Glauben der Eziden geht weiter. Das muss allen bewusst sein, und wir müssen uns gemeinsam dagegen wehren. Zur Zeit des Ferman war die finanzielle Lage vieler Eziden sehr gut, aber wir haben gesehen, dass uns das nicht geschützt hat. Die einzige Lösung, um zu verhindern, dass sich solche Erlasse wiederholen, ist, dass wir uns selbst regieren.“

Wir leben seit 5000 Jahren in Şengal“

Saleh Êzdîn ist Mitglied der Ezidischen Partei für Freiheit und Demokratie (PADÊ). Er erklärt, dass das ezidische Volk seit 5.000 Jahren in diesem Gebiet lebt: „Die irakische Regierung sollte die Rechte des ezidischen Volkes anerkennen. Wir haben Dutzende Massaker erlebt, wir wurden Opfer von Völkermord, und trotzdem akzeptiert der Irak unsere Religion nicht. Wie sollen diejenigen, die unseren Glauben nicht anerkennen, uns unsere Rechte geben? Wenn es im Irak eine Regierung gäbe, würde sie die Rechtsverletzungen verhindern. Wie will der Irak, der auf einen Zerfall zusteuert, uns unsere Rechte geben? Südkurdistan wurde vom türkischen Staat besetzt. Wenn wir in dieser Situation auf die irakische Regierung warten, werden wir unsere Rechte nicht bekommen.“