„Wir sind auch heute bereit, für Şengal zu kämpfen“

Der YPG-Kämpfer Zerdeşt Feyrûşa Elî ist 2014 im Kampf gegen den IS in Şengal verwundet worden, trotzdem würde er wieder dorthin gehen: „Wir haben Menschen vor den IS-Banden gerettet. Es hat uns viel bedeutet."

Am 3. August 2014 war der Lärm von Schüssen, Kanonen, Schreien von Müttern und Kindern laut. IS-Banden griffen Şengal mit Macheten und Waffen an. Innerhalb weniger Minuten kamen Hunderte von Autos auf die Straßen und hinterließen mit großer Geschwindigkeit Staub und Rauch. Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) drang wie eine schwarze Wolke und eine Tötungsmaschine in das Gebiet von Şengal ein und machte Jagd auf Ezidinnen und Eziden.

Kurz nach Beginn des Angriffs machten sich Freiheitskämpfer:innen sowohl aus Westkurdistan (Rojava) als auch aus den Medya-Verteidigungsgebieten der Guerilla in den Bergen auf den Weg nach Şengal. Sie hörten die Stimmen der Kinder, Frauen und Männer, die versuchten, sich vor den IS-Banden zu retten, und sie näherten sich Şengal mit großer Wut.

Zerdeşts Reise von Qamişlo nach Şengal

Der IS verübte einen Genozid und Femizid in Şengal. Dass der Plan, die ezidische Gemeinschaft auszurotten, nicht vollendet wurde, ist den Kämpferinnen und Kämpfern der Guerillaorganisationen HPG und YJA Star sowie der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ zu verdanken. Sie kämpften Seite an Seite gegen die Islamisten, als die irakische Armee und die PDK-Peschmerga längst geflüchtet waren. Als sie nach Şengal kamen, evakuierten sie die Verwundeten und unterstützten die fliehenden Menschen. Sie gaben ihnen Nahrung und Wasser und brachten sie an sichere Orte. Einer dieser Kämpfer war ein junger Mann namens Zerdeşt Feyrûşa Elî.

„Wir haben Menschen vor den IS-Banden gerettet. Es hat uns viel bedeutet."

Şengal stammt aus Qamişlo in Rojava, aus dem Dorf Anteriyê, er war einer der YPG-Kämpfer. Als seine Einheit sich versammelt und über den Völkermord an den Ezid:innen spricht, wird er sehr wütend. Es wird gefragt: „Wer ist bereit, nach Şengal zu gehen und gegen die IS-Banden zu kämpfen?“ Zerdeşt hebt seine Hand und sagt: „Ich bin bereit.“ Sie verlassen Qamişlo morgens und erreichen abends Şengal.

Zerdeşt berichtet: „Von Cezava aus wurde von uns ein Korridor geöffnet. Wir gingen nach Xanesor, umrundeten den Berg und erreichten das Zentrum von Şengal. Wir ruhten uns zunächst ein wenig aus und fuhren zur HPG-Zentrale in die Berge. Als wir die Guerilla sahen, waren wir sehr glücklich. Wir lernten uns kennen und bekamen Kraft von ihnen. Aber wir hatten nicht viel Zeit und machten uns gleich wieder auf den Weg. Es war eine sehr ernste Situation, Kinder und ihre Mütter wurden getötet. Die Leichen wurden auf dem Boden zurückgelassen. In einigen Häusern wurden alle Familienmitglieder getötet. Wir mussten handeln."

Schlacht am alten Markt

Es wurden letzte Vorbereitungen getroffen, zunächst musste die Lage richtig eingeschätzt werden. Zerdeşt und seine Gruppe hatten bereits Erfahrung durch die islamistischen Angriffen in Rojava. Jetzt mussten jedoch die notwendigen Informationen für den Krieg in Şengal gesammelt werden. Eingewiesen wurden sie von der Kampfkoordination, zu der auch Egîd Civyan (Vahdettin Karay) gehörte. Dann ging es los.

Über die Kämpfe erzählt Zerdeşt: „Wir waren auf dem alten Markt, vor uns lag eine lange Straße. Wir konnten sehen, wohin der Feind kam. Dementsprechend haben wir uns positioniert. In diesen Momenten lernten wir viel über die Menschen um uns herum. Die Angriffe des IS waren sichtbar, die Medien berichteten weltweit darüber. Der IS tötet Menschen. Er sagt, sei wie wir oder stirb. Der Widerstand, den wir leisteten, war groß. Wir haben Menschen vor den IS-Banden gerettet. Es hat uns viel bedeutet."

Zerdeşt wurde in der Schlacht am alten Markt schwer verletzt. Er erzählt von diesem Moment: „Ein Panzerwagen kam auf uns zu, wir griffen an und zogen uns zurück. Dann kam ein anderer Panzerwagen, wir wussten, dass sie Sprengsätze daran befestigt hatten und ihn in die Luft sprengen würden. Als der Wagen in unserer Nähe war, explodierte er. Ich wurde verletzt und blieb unten im Haus. Sogar meine Augen waren weg, aber ich wurde später operiert."

Zerdeşt sagt, dass er jederzeit wieder für Şengal kämpfen würde. Şengal ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft und auch heute noch bedroht. „Der Krieg in Şengal dauert bis heute an. Wenn es verlangt wird, sind wir bereit, für Şengal zu kämpfen. Es lebe der Şengal-Widerstand“, so der YPG-Kämpfer Zerdeşt Feyrûşa Elî.

Hintergrund: Genozid und Femizid in Şengal

Als der IS am 3. August 2014 in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Menschen schutzlos den Islamisten. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützte zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Dschihadisten. Am 6. August kamen zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten in den ersten Tagen bereits rund 50.000 Ezid:innen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.

In Şengal wurden tausende Menschen massakriert oder verschleppt. Die Zahl der Todesopfer wird von verschiedenen Quellen auf 5000 bis 10 000 beziffert, bislang konnten in der Region 81 Massengräber lokalisiert werden. Etwa 7000 Frauen wurden in die Sklaverei verschleppt; einige von ihnen befinden sich bis heute in der Gewalt von IS-Anhängern in anderen Ländern. 2700 bis 2800 Menschen gelten immer noch als vermisst.

Nach dem Genozid und Femizid bauten die Ezid:innen in Şengal eigene Verwaltungs- und Verteidigungsstrukturen auf. Diese wollen sie unter keinen Umständen aufgeben, um kein weiteres Massaker zu erleben.