Die nordkurdische Stadt Wan hat ein rapide wachsendes Drogenproblem. Das Alter der Konsument:innen nimmt immer weiter ab. Gleichzeitig steigt auch die Zahl der Menschen, die zur Prostitution gezwungen werden. Nach Istanbul und Adana belegt Wan mittlerweile Platz drei auf der Liste der Städte mit der meisten Zwangsprostitution und Drogenhandel. Obwohl der AKP-Innenminister Süleyman Soylu Wan monatlich besucht, hat er bisher keine Erklärung zu dem Problem abgegeben. Das Regime setzt sich offensichtlich nur mit Drogenkonsum im Westen der Türkei auseinander.
Paramilitärs als Drogenkuriere
Insbesondere seit 2020 nahmen Zwangsprostitution und Drogenhandel in Wan rapide zu. Die Pandemie scheint dabei als Katalysator gewirkt zu haben. Doch wer steht hinter der organisierten Kriminalität? Die Lieferketten für Drogen werden von den Paramilitärs des Regimes, den sogenannten „Dorfschützern“ kontrolliert. Sie können ohne jede Kontrolle Drogen in die Stadt und den Landkreis bringen und in der Region verteilen. Einige regimenahe Familien spielen eine wichtige Rolle beim Handel mit Drogen und der Zwangsprostitution. Diese Familien sind de facto mit Immunität ausgestattet. Eine dieser Familien ist Recherchen zufolge der Dorfschützerclan Kahraman. Auch der AKP-Bürgermeister der Kreisstadt Şax (tr. Çatak), Abdurrahman Şeylan, der gleichzeitig Chef einer Dorfschützertruppe ist, ist demzufolge zentral an der organisierten Kriminalität in der Region beteiligt.
Der Drogentransport und deren Verteilung wird offensichtlich von den aus den 90er Jahren berüchtigten Dorfschützern „Schwarzer Blitz“, der Familie Kahraman und den Dorfschützern des AKP-Bürgermeisters von Şax gemeinsam betrieben. Die Drogen werden von den Dorfschützern in die Städte gebracht und Dealern übergeben. Dort werden sie in Bars und in Parkhäusern verkauft. Drogenhandel und Zwangsprostitution gehen in Wan Hand in Hand.
Die Parkhäuser, in denen Drogen gehandelt werden, gehören wiederum den Familien Kahraman und Şeylan. Weitere dieser Parkhäuser gehören sogenannten „Aghas“ und Dorfschützern. Dort werden bei helllichtem Tag Drogen verkauft. Gleichzeitig werden über das Internet Drogen verkauft und Prostitution betrieben. Gegen Geld werden Telefonnummern von Dealern und Zwangsprostituierten vermittelt. In bestimmten Bars finden dann entsprechende Treffen statt. Aufgrund der Ausbreitung von Zwangsprostitution ist die Zahl der Syphilis-Patient:innen in Wan in letzter Zeit um hundert Prozent gestiegen.
Militärs organisieren Zwangsprostitution
Während die Dorfschützer den Drogenhandel in der Hand haben, befindet sich die Zwangsprostitution in der Hand des Militärs. Insbesondere arme, junge, häufig obdachlose Frauen werden in die Drogenabhängigkeit getrieben und zur Prostitution gezwungen. Zwangsprostitution findet nicht nur auf der Straße und in Bars, sondern auch in sogenannten Massagesalons statt. Diese „Massagesalons“ erhielten ihre Betriebsgenehmigung von der unter Zwangsverwaltung stehenden Stadtverwaltung von Rêya Armûşê (tr. Ipekyolu). Die Stadtverwaltung genehmigt diese „Massagesalons“ ohne jede Kontrolle. Sie entwickeln sich ebenfalls zu Drogenverkaufsstellen. Im vergangenen Sommer wurde ein solcher Salon durchsucht, und es stellte sich heraus, dass das Bordell von einem Polizeibeamten und einem Unteroffizier betrieben wurde.
Migrantinnen werden zur Prostitution gezwungen
Insbesondere die prekäre Situation von migrantischen Frauen wird ausgenutzt, um sie zur Prostitution zu zwingen. Dabei sekundiert die türkische Justiz. So wurden vor kurzem in Wan fünf Frauen, die sich aus der Zwangsprostitution zur Staatsanwaltschaft in Wan geflüchtet hatten, direkt zur Abschiebung der Migrationsbehörde übergeben. Die Drohung mit Abschiebung nimmt den Frauen die Möglichkeit, sich aus ihrer prekären Lage zu befreien.
Zwangsprostitution und Drogenhandel als Teil der Aufstandsbekämpfung
Drogenhandel und Zwangsprostitution gehören zum Repertoire der Aufstandsbekämpfung durch den türkischen Staat. In diesem Rahmen hat sich bereits in den 90er Jahren ein Komplex aus Paramilitärs, Rechtsextremisten, Geheimdienst, Militär und Regierung herausgebildet. Immer wieder kommen diese Verbindungen ans Licht. So entpuppte sich Osman Yarbaş, Generalstaatsanwalt für die südtürkische Provinz Adana, als Kopf einer Drogenhändlerbande, als er beim Transport von Heroin gestellt wurde. Zu seinem Netzwerk gehörten auch Polizisten. Besonders deutlich wurden die Verbindungen zwischen Regime und organisierter Kriminalität beim Unfall von Susurluk. Im November 1996 kam es an der nördlichen Ägäis in der Nähe der Stadt Susurluk zu einem Verkehrsunfall, der die Verflechtung von Staat, organisierter Kriminalität und Politik und die Existenz eines geheimen Konterguerilla-Netzwerkes zu Tage fördern sollte: der tiefe Staat. In dem gepanzerten Mercedes-Benz 600, der auf einen einbiegenden Lastkraftwagen prallte, befanden sich der wegen mehrfachen Mordes und Heroinhandels per Interpol gesuchte Abdullah Çatlı, der zudem Funktionär der faschistischen „Idealistenverbände“ war, der hochrangige Polizeifunktionär Hüseyin Kocadağ, ehemals Kommandant der Spezialkräfte in Colemêrg (tr. Hakkari), sowie der Vize-Polizeichef von Amed (Diyarbakir), der Parlamentarier und Dorfschützerführer Sedat Bucak und die einstige Miss Türkei, Gonca Us. Von den vier Insass:innen überlebte nur Bucak, ein kurdischer Stammesführer aus Sêwreg (Siverek) und Mitglied der damaligen Regierungspartei (DYP) von Tansu Çiller, der in seinem Heimatort über eine Privatarmee von 20.000 Dorfschützern aus 90 Dörfern des von ihm kontrollierten Clans gegen die PKK verfügte. Für die Bereitstellung der Dorfschützer bezog Bucak staatliche Gelder in Höhe von monatlich 1,3 Millionen US-Dollar. Der Mafiakiller Abdullah Çatlı verfügte über Waffenscheine, einen Diplomatenpass und einen Polizeiausweis, der ausgestellt worden war vom damaligen Innenminister Mehmet Ağar. In der Benz-Limousine von Bucak wurden sieben High-Tech-Schusswaffen mit Schalldämpfern sichergestellt, außerdem Kokain.