AKP/MHP hauchen Stammesfehden neues Leben ein

Das türkische Gouverneursamt in der Provinz Wan fördert gezielt Stammesvereine. Durch diese Förderung flammen Stammeskonflikte und Blutfehden von neuem auf. Der HDP-Politiker Fikret Doğan ruft die Gesellschaft zur Wachsamkeit auf.

Die kurdische Gesellschaft wurde in ihrer jüngeren Geschichte immer wieder von blutigen Fehden zwischen einzelnen Aşiret – Stämmen – erschüttert und gespalten. Die kurdische Freiheitsbewegung hat viel dazu beigetragen, diese Konflikte zu überwinden. Schlichtungskommissionen der Volksräte führten zur friedlichen Beilegung von Blutfehden und ein neues Zeitalter brach an. Nun versucht die AKP/MHP-Regierung offenbar, die Uhr zurückzudrehen und die Widerstandskraft der Bevölkerung durch das Wiederaufleben der alten Bruchlinien zu brechen. So wurden seit 2016 Vereine zur Förderung der Stämme eröffnet, zunächst die „Föderation der ursprünglichen Aşiret“ von Wan. Darauf reagierten die Stämme Hertoşî und Pinyanişi mit der Gründung eines eigenen Vereins. Der Gouverneur von Wan, M. Emin Bilmez, nahm selbst an der Eröffnung des Vereins teil.

Die Förderung des Stammeswesens in der Region führte zu einem Wiederaufflammen des totgeglaubten Phänomens der Blutfehde. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 wurden zwölf Personen im Zusammenhang mit solchen Auseinandersetzungen getötet. Türkische Regierungen haben das Stammeswesen und seine Feudalstrukturen immer wieder zur Aufstandsbekämpfung genutzt. Führer von Stämmen, die um ihre patriarchale Machtbasis bangten, wurden vom türkischen Staat als Kompradorenklasse aufgebaut und ganze Stämme zu Dorfschützerverbänden hochgerüstet.

Fikret Doğan, Ko-Vorsitzender des HDP-Provinzverbands Wan

Der Ko-Vorsitzende des HDP-Provinzverbands von Wan, Fikret Doğan, äußerte sich im ANF-Gespräch zu den besorgniserregenden Entwicklungen.

Stammesverbände sind Folge nationalstaatlichen Denkens“

Doğan unterstreicht, die Nationalstaaten würden versuchen, die Stämme zu nutzen, um die Organisierung der Bevölkerung zu zerschlagen. Er fährt fort: „In jüngster Zeit haben wir in Regionen Kurdistans Aktivitäten von Organisationen gesehen, welche die Menschen über ein Gefühl der Stammeszugehörigkeit um sich zu sammeln versuchen. Natürlich haben sich Menschen seit Beginn ihrer Sozialisation in verschiedenen Formen organisiert, um sich auszudrücken, zu schützen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen. Der Stamm ist eine von ihnen. Stämme sind nicht die traditionelle und institutionelle Struktur des kurdischen Volkes, sondern vielmehr eine arabische Tradition. Wie eingangs erwähnt, haben sich diese Formen, mit denen sich die Menschen gegenseitig helfen und ihr Leben durch Solidarität aufrechterhalten, mit dem Aufkommen des Nationalstaats in verschiedene Organisationen verwandelt. Zur Zeit der Stämme war das demokratische Verständnis der Gesellschaft noch nicht entwickelt. Wenn wir das derzeitige Verständnis von Demokratie betrachten, spiegelt es sich in den Bestrebungen der Gesellschaft wider, sich demokratisieren zu wollen. Die Realität des Nationalstaates hingegen hat ein Verständnis von Tribalismus, von der Beherrschung der Gesellschaft durch ein Verwandtschaftsnetzwerk entwickelt."

Der Staat betrachtet den Aufbau von Stammesstrukturen als Vorteil“

Das kapitalistische System beruhe naturgemäß auf einer Politik, die auf den Konflikten und Widersprüchen zwischen den Menschen basiere, sagt Doğan und warnt: „Dies hat für die Gesellschaft eine sehr gefährliche Dimension erreicht. In unserer Gesellschaft hat es in den letzten 50 Jahren einen Kampf um den Wiederaufbau der Gesellschaft gegeben. Die vom System gewünschte Form wurde durch diesen Kampf zurückgedrängt. Wenn die Menschen nicht mehr bereit sind, sich als Stämme zu definieren und sich stattdessen als Nation betrachten, versuchen die Herrschenden und Großgrundbesitzer, das Stammeswesen von neuem zu beleben und die Gesellschaft so wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie sehen in dieser sozialen Struktur einen Vorteil für sich selbst. So versuchen sie, die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft zu vertiefen. Aber ich muss auch feststellen: Obwohl man versucht, die Stämme so wiederzubeleben, sehen wir, dass diese Bemühungen von der Bevölkerung nicht erwidert werden."

Die Gesellschaft muss wachsam sein“

Doğan erinnert daran, dass diese Form der antikurdischen Politik in der Zeit von Sultan Abdülhamid begonnen habe und sich bis heute fortsetze: „In seiner Geheimdienstarbeit kategorisierte der Staat die Gesellschaft und die Stammesstrukturen als staatsfreundlich und staatsfeindlich. Der Widerspruch zwischen den Stämmen wurde absichtlich vertieft. Ein schwaches und unorganisiertes Volk ist für den Staat unerlässlich. Die Gesellschaft sollte in dieser Frage wachsam sein. Stämme sind unsere soziale Realität. Das Einzige, was wir in dieser Hinsicht tun können, ist, dass unser Volk in dieser Frage wachsam ist und sich selbst organisiert.“