Sûr-Überlebender zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt

Ein weiterer Überlebender des 100-tägigen Krieges der türkischen Armee gegen die kurdische Zivilbevölkerung in Sûr, dem Altstadtbezirk von Amed, ist zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Mit Mehmet Şirin Arat ist erneut ein Überlebender der türkischen Militärbelagerung in Sûr, dem Altstadtbezirk der kurdischen Widerstandshochburg Amed (türk. Diyarbakir), von einem türkischen Gericht wegen des „Versuchs zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung“ zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Arat ist bereits der fünfte Überlebende des hunderttägigen Krieges der Türkei gegen die Bevölkerung von Sûr zwischen Dezember 2015 und März 2016, der nach seiner Evakuierung im Februar verhaftet und zu diesem Strafmaß verurteilt wurde. Diese Art der Freiheitsstrafe ersetzt die seit dem Jahr 2002 abgeschaffte Todesstrafe und dauert nach gültiger Rechtsprechung bis zum physischen Tod. Insgesamt wurden 47 Personen aus Sûr wegen „Versuchter Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ angeklagt. 26 von ihnen sitzen im Gefängnis, einige wurden wegen Terrorvorwürfen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. In keinem einzigen Fall liegen Beweise gegen die Betroffenen vor, die eine Beteiligung am bewaffneten Widerstand untermauern würden. Die Vorwürfe sind vage formuliert und beziehen sich auf die Aussagen von Belastungszeugen, die anonymisiert sind. 

Die Verhandlung im Prozess gegen Mehmet Şirin Arat fand am Dienstag vor dem 5. Schwurgerichtshof in Amed statt. Nachdem die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer gehalten hatte, erklärte Arat zu seiner Verteidigung, dass die Evakuierung von ihm und weiteren Personen aus einem Wohngebäude, in dessen Keller sie Schutz vor den Bombardierungen gesucht hatten, auf Betreiben des zuständigen Militärkommandanten von der türkischen Presse begleitet wurde. „Es war eine mediale Inszenierung, die so dargestellt wurde, als hätten zuvor Gefechte stattgefunden. Auf den Aufnahmen ist jedoch zu erkennen, dass wir zu dem Panzerfahrzeug gelotst wurden.“ Auch Arats Rechtsanwalt Aydın Altaç wies darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft ihre Anklage lediglich mit Aufnahmen untermauere, die seinen Mandanten neben einem Militärwagen zeigen. Dennoch würden sie als Beweis für eine Beteiligung Arats an Kampfhandlungen ins Feld geführt. „Weder wird eine konkrete Tat genannt, die mein Mandant begangen haben soll, noch fällt der Name einer Person, gegen die er eine Waffe gerichtet haben soll. Ich fordere seine Freilassung.“

Sûr vor der Zerstörung (l.) und im Mai 2016

Der Antrag auf Haftentlassung wurde abgewiesen. Zudem wurde Arat wegen der „Tötung keiner bestimmten Person“ zu zusätzlichen zehn Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Diese Regelung nach Artikel 43 Absatz 1 Türkisches Strafgesetzbuch (TCK) findet Anwendung, wenn der vermeintliche Täter von vornherein den Vorsatz hat (subjektive Komponente), dieselbe Tat zu verschiedenen Zeitpunkten zu begehen.

Die Zerstörung von Sûr

Im November 2015 begann mit der Ausrufung einer Ausgangssperre die Zerstörung von Sûr. In der Altstadt von Amed, die eine fünftausendjährige Geschichte hat und unter dem Schutz der UNESCO steht, war kurz zuvor die Selbstverwaltung ausgerufen worden. Über drei Monate leisteten die Menschen im Viertel Widerstand gegen ein barbarisches Angriffskonzept des türkischen Staates. Die Zerstörung setzt sich bis heute fort, Tausende Menschen sind vertrieben worden.