Protest gegen türkischen Drohnenangriff in Şengal

Bei einem türkischen Drohnenangriff am Dienstagmittag in Şengal sind laut Medienberichten zwei Frauen verletzt worden. Vor dem bombardierten Autowrack forderten ezidische und arabische Vertreter:innen, den Drohnenterror der Türkei zu stoppen.

Drohnenkrieg der Türkei im Nordirak

Bei dem türkischen Drohnenangriff im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal (Sindschar) im Nordwesten des Irak sind nach Angaben von RojNews zwei Frauen verletzt worden. Die Antiterrorstelle der Kurdistan-Region im Irak (KRI) meldete unmittelbar nach dem Angriff den Tod eines hochrangigen PKK-Mitglieds. Eine Erklärung der Selbstverwaltung von Şengal liegt bisher nicht vor.

Bei dem Luftangriff um etwa 12 Uhr Ortszeit (11 Uhr mitteleuropäischer Zeit) wurde ein Auto auf einer Straße in der Hochebene Serdeşt bombardiert. Das Fahrzeug brannte vollständig aus. Die Verletzten wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. In der Nähe des Angriffsorts befindet sich ein selbstverwaltetes Vertriebenenlager für Ezidinnen und Eziden, die beim Genozid der Terrororganisation „Islamischer Staat” (IS) 2014 aus ihren Dörfern ins Gebirge flüchteten. Auch dort kam es in der Vergangenheit zu türkischen Drohnenangriffen.

Ezidische und arabische Vertreter:innen von Organisationen und Stämmen aus der Region haben den Anschlag verurteilt und die irakische Regierung zum Handeln aufgefordert. Die türkischen Terrorangriffe müssten gestoppt werden, forderte Edûl Şemo von der ezidischen Frauenfreiheitsbewegung TAJÊ vor dem ausgebrannten Autowrack: „Als Menschen in Şengal haben wir keine Angst vor den Angriffen und Drohungen Erdogans. Erdogan hat nicht nur in den Bergen eine Niederlage gegen die Guerilla erlitten, sondern auch bei den Wahlen in der Türkei. Aufgrund dieser Niederlagen greift er wie ein tollwütiger Wolf überall an.“

Zweifelhafte Darstellung der KRI-Behörde

Laut Darstellung der Generaldirektion für Terrorismusbekämpfung (CTD) der Kurdistan-Region des Irak (KRI) soll bei dem Drohnenangriff in Serdeşt ein „hochrangiger Kommandeur“ der PKK getötet worden sein, weitere zwei Mitglieder seien verletzt. Die Behörde verbreitete diese Meldung unmittelbar nach dem gegen 12 Uhr mittags verübten Angriff, ohne weitere Details zu nennen. Eine Untersuchung des Tatorts durch KRI-Behörden hatte zu dem Zeitpunkt nicht stattgefunden.

Die dem Sicherheitsrat der Kurdistan-Region Irak (KRI) angegliederte CTD steht der Barzanî-Partei PDK („Demokratische Partei Kurdistans“) nahe, die offen mit dem türkischen Regime kollaboriert und sich an der Bekämpfung der PKK und anderer Widerstandsstrukturen in Südkurdistan, darunter den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ beteiligt. Von unabhängigen Medien werden ihre Angaben als kritisch beurteilt, da die Behörde bereits mehrfach nachweislich zivile Opfer völkerrechtswidriger Angriffe der Türkei in der KRI als Angehörige der PKK oder ihr nahestehender Organisationen ausgewiesen hat. Selbst drei arabischstämmige Todesopfer eines türkischen Drohnenangriffs vergangenen August in Pêncewîn waren von der CTD als „PKK-Militante“ dargestellt worden. Tatsächlich handelte es sich um Zivilist:innen, die ursprünglich aus Mosul stammten und in Duhok lebten, darunter ein Ingenieur des Mobilfunkanbieters Asiacell und dessen Tochter. Die CTD hatte die unwahren Angaben zu ihrer Identität trotz eindeutiger DNA-Identifizierung nicht berichtigt.

Türkischer Drohnenterror in Şengal

Unter dem Vorwand der „Bekämpfung der PKK“ kommt es seit 2017 immer wieder zu Luftschlägen durch türkische Kampfflugzeuge und Drohnen auf Şengal. Konkrete Ziele sind hierbei zumeist Einrichtungen, die unter dem Eindruck des IS-Genozids gegründet wurden – wie etwa das Verwaltungsgremium „Demokratischer Autonomierat Şengal“ (MXDŞ) oder die Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ. Bei den Todesopfern handelt es sich hauptsächlich um Menschen aus der Zivilbevölkerung – oftmals sind es Überlebende des Völkermords von 2014.

NATO-Staat ermordet Genozid-Überlebende

Der letzte bekannte Drohnenangriff der Türkei in Şengal war Anfang März verübt worden. Dabei wurde Mecdel Feqîr, ein Kommandant der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und Überlebender des IS-Genozids von 2014, ermordet. Die Killermaschine hatte nahe Til Êzêr einen Kontrollpunkt bombardiert, an dem Feqîr im Einsatz war. Er wurde 32 Jahre alt und hinterließ Frau und Sohn. Wenige Tage zuvor war in Şengal bereits der Zivilist Sadun Mirza Ali von einer türkischen Drohne getötet worden. Der Ezide war Vater von drei Kindern und arbeitete als Fahrer für das Gefallenenkomitee der Selbstverwaltung. Ende Dezember kamen fünf Arbeiter aus Rojava bei einem Drohnenangriff in Şengal ums Leben.

Alle Angriffe in Şengal sind eine Fortsetzung des Völkermords

Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) bewertet die tödlichen Anschläge als Angriff auf den freien Willen der ezidischen Gemeinschaft. „Der türkische Staat will den Völkermord an den Ezid:innen vollenden, den der IS nicht vollenden konnte. Alle Angriffe auf Şengal dienen diesem Zweck“, erklärte die KCK Anfang März.

Die türkische Regierung gibt vor, in Şengal ausschließlich gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die das ezidische Volk gegen den IS verteidigt hatte und seit 2018 nicht mehr in der Region präsent ist, vorzugehen und beruft sich dabei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Zahlreiche Organisationen und Gremien, darunter auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, weisen dagegen auf Verstöße der Türkei gegen das Gewaltverbot hin, da es gar keine Selbstverteidigungssituation gebe.

Der Deutsche Bundestag hat den IS-Genozid von 2014 als Völkermord an den Ezid:innen anerkannt. Die Bundesregierung steht jedoch bei den Massakern an der kurdischen Bevölkerung, egal in welchem Teil Kurdistans, grundsätzlich, stillschweigend und praktisch auf der Seite der Türkei. So wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Ezidinnen und Eziden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, obwohl die Ampel die Rückführungen von ezidischen Geflüchteten im vergangenen Jahr noch als „unzumutbar“ bezeichnet hatte. In einigen Bundesländern ist die Abschiebung ezidischer Frauen und Kinder vorübergehend ausgesetzt worden.

Foto: RojNews