Unter dem Motto „Mit dem Prinzip der demokratischen Nation die demokratische Einheit der Völker Irans aufbauen” hielt die „Partei für ein freies Leben in Kurdistan“ (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – PJAK) am 10. und 11. März in den Bergen Kurdistans ihren sechsten Kongress ab. Der ausführliche Abschlussbericht wurde kriegsbedingt erst jetzt vorgelegt. Wie darin formuliert ist, sind bei der Zusammenkunft der Delegierten zunächst die Aktivitäten der letzten drei Jahre analysiert und selbstkritisch reflektiert worden. Im Rahmen einer konstruktiven Diskussion, ausgehend von den Perspektiven Abdullah Öcalans, wurde die Methode der Kritik und Selbstkritik angewandt, um die Ausführung der Arbeiten und Entwicklungen sowie konkrete Fehler und Schwächen im Kampf zu bewerten. Auch Kritikpunkte aus der Bevölkerung flossen in die Diskussion mit ein.
Für die Bewältigung aktueller Herausforderungen, und um einen Erneuerungsprozess anzustrengen, hat die PJAK auf der Grundlage des Paradigmas der demokratischen Moderne eine Agenda für den künftigen Kampf ausgearbeitet. Es wurde beschlossen, dass sich alle angebundenen Institutionen und Komitees noch aktiver an der Arbeit beteiligen. Die Ausschüsse wurden hierfür den neuen Anforderungen des Kampfes entsprechend umstrukturiert. Zudem wurden die 16 Mitglieder des Parteirats bestimmt. Zîlan Vejîn und Siamand Moini wurden einstimmig zum zweiten Mal als Ko-Vorsitzende der PJAK gewählt.
Im Abschlussbericht heißt es: „Die Durchführung des 6. PJAK-Kongresses in einer historischen Phase wie dieser, in der wir grundlegende und entscheidende Veränderungen in Kurdistan und der Region erleben, ist ein wesentlicher und wertvoller Schritt. In fünfzehn Jahren des Widerstands und der Anstrengungen haben wir bedeutsame gesellschaftliche und politische Errungenschaften erwirkt, die unsere Diskussion fördern. Mit der Kraft, die wir aus der Philosophie Rêber Apos [Abdullah Öcalan], dem selbstlosen Widerstand unserer Gefallenen und dem Kampf unseres Volkes schöpfen, entstehen ein hohes Diskussionsniveau, hohe Ansprüche und große Entschlossenheit. Dieser Prozess hat bedeutende Ergebnisse erzielt, die unseren Kampf bereichern werden.
Historische Perspektiven für das kurdische Volk
Der Kongress bewertete in umfangreichen Debatten die regionalen und globalen politischen Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven. Unserer Meinung nach zeigt der bisherige Verlauf der Ereignisse im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts, dass dieses Zeitalter der kurdischen Nation neue Perspektiven eröffnet und den Weg für bedeutende Veränderungen ebnet. Aufgrund ihres großen Widerstands hat die kurdische Nation als ernstzunehmende Akteurin ihren Platz auf der regionalpolitischen Bühne eingenommen und sich die Möglichkeit der Freiheit erkämpft. Gleichzeitig spielt sie heute weltweit eine Vorreiterrolle für alternative Gesellschaftssysteme. Die invasiven Nationalstaaten halten dagegen an ihrer chauvinistischen, verleugnenden, zentralistischen und völkermörderischen Politik fest. In der Absicht, einen kulturellen und physischen Genozid zu vollziehen, setzen die staatlichen Strukturen ihre Angriffe mit voller Geschwindigkeit fort. Demgegenüber erweitert sich unter Federführung der kurdischen Nation mit jedem Tag sowohl in der Region als auch global die freiheitliche Widerstandsfront der Völker und reißt immer mehr Löcher in das Fundament des Nationalstaatenprinzips. In der Folge intensivieren die internationalen imperialistischen Mächte und regionalen Status-Quo-Staaten, die Kurdistan besetzt halten, ihre Angriffe auf das kurdische Volk und seine Errungenschaften und wenden Methoden wie Komplotte, Plünderung und Massaker an, um diesen Prozess zu sabotieren.
Die neoliberale Wirtschaftsdoktrin bestimmt die Pläne der hegemonialen Kräfte, künstliche Widersprüche in der Region konstruieren, um sich immer mehr Profit und Ausbeute zu verschaffen. Die Existenz einer anderen Macht in der Region außer der eigenen lehnen sie ab. Das eurozentrische Kolonialsystem mit seinem Nationalstaatenprinzip hat seine Funktionalität verloren und kämpft mit internen Widersprüchen. Die regionalen Mächte wenden alle Arten von Methoden an, um ihren Status quo zu schützen. Mit anderen Worten: Der Mittlere Osten ist entmündigt und in eine Arena verwandelt worden, in der um die Überlebensfähigkeit der eigenen Systeme gekämpft wird.
Völker im Iran hinterfragen Legitimation des Regimes
Im Rahmen unseres Kongresses wurde die Situation des Iran ausführlich erörtert und festgestellt, dass der Verwaltungsapparat des Regimes ein ineffizienter und inkompetenter Korruptionssumpf ist und die absolute und zentrale Autorität die Ursache der tiefen Krise darstellt. Um Inkompetenz, Ineffizienz und Missstände zu verschleiern, wurden in allen Provinzen, sogar inmitten der Städte, Wachposten hochgezogen. Im Land wurde faktisch das Kriegsrecht verhängt und eine militaristische Atmosphäre geschaffen. Insbesondere in den kurdischen Gebieten, Chuzestan sowie Sistan und Belutschistan bringt das Regime mit Hinrichtungen, Terror und Massenverhaftungen das Fass zum Überlaufen. In der gegenwärtigen Phase hat das Volk begonnen, die Legitimität des Regimes in Frage zu stellen. Der Boykott der Parlamentswahlen und der Wahl des Expertenrats durch eine breite Öffentlichkeit zeigt die Intoleranz dem Regime gegenüber. Dass die Stimmen von Menschen aller Gesellschaftsgruppen, insbesondere von Frauen, Jugendlichen, Bildungskräften, Schüler*innen und Studierenden, Landwirt*innen, Arbeitenden und Staatsbediensteten immer lauter werden, ist ein klares Indiz dafür. Zusammen stehen sie Schulter an Schulter und verstärken den Widerstand. Es braucht einen radikalen Strukturwandel in der Region, insbesondere im Iran. Andernfalls ist eine wesentliche Demokratisierung nicht möglich.
COVID-19 hat die Funktionslosigkeit des iranischen Regimes gezeigt
Mit dem Coronavirus hat sich ein weiteres Mal gezeigt, wie funktionslos und wie wenig in der Lage das Regime des Iran ist, Lösungen zu konstruieren. Seine Kraft reicht nicht aus, die Gesellschaft vor Krankheiten und Naturkatastrophen zu schützen. Das verrottete System und die Korruption in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit und Medizin haben schlimme Konsequenzen gehabt und zu vielen Toten geführt. Diese Situation zeigt offen, dass die auf Faschismus und Diktatur beharrenden Nationalstaaten als wesentliche Grundpfeiler der krebsartigen Struktur des kapitalistischen Systems der Gesellschaft großen Schaden zufügen.
Es hat sich herausgestellt, dass unsere Welt und die Gesellschaft ein ökologisches, demokratisches und genderbefreites Paradigma brauchen. Damit die natürliche Struktur der Gesellschaft und ein ökologisches Gleichgewicht wieder hergestellt werden können, müssen die Völker der Welt und insbesondere die Kurden ein autonomes, demokratisches, gleiches und ökologisches System aufbauen, das auf ihrer eigenen Kraft basiert. Der hilfsbereite und solidarische Umgang der Bevölkerung bei Naturkatastrophen – die Erdbeben von Kirmaşan und Kotol, die Überschwemmungen im Nordiran, in Rojhilatê Kurdistan [Ostkurdistan] und Chuzestan sowie zuletzt die Corona-Pandemie – hat gezeigt, dass das funktionslos gewordene Nationalstaatssystem überwunden werden kann und eigentlich unnötig ist. Diese Bemühungen der Bevölkerung belegen, dass den Menschen das System der Selbstbestimmung überhaupt nicht fremd und das von uns angestrebte Gesellschaftsmodell realistisch und umsetzbar ist.
Diese Feststellung hat die Diskussion und die gefassten Beschlüsse auf unserem Kongress gestärkt und inspiriert. In dem Befreiungskampf, den wir als PJAK in Rojhilat führen, haben wir wichtige Erfahrungen gesammelt, die zur einer Lösung der Probleme des kurdischen und der anderen Völker sowie zum Aufbau eines demokratischen Systems beitragen können. Auf diesem Weg haben Hunderte unserer Gefährtinnen und Gefährten ihr Leben geopfert, weitere Hunderte leisten immer noch Widerstand gegen den Faschismus in den iranischen Gefängnissen. In unserem fünfzehnjährigen Kampf haben wir mit umfassenden Lösungsprojekten auf eine konstruktive Herangehensweise gesetzt. Diese Projekte sind nicht auf einen kurzen Zeitraum angelegt, sondern bewahren ihre Gültigkeit.
Beginn einer neuen Phase
Als Resultat des Wirkens und der Opfer unseres Volkes und unserer Freundinnen und Freunde ist eine kraftvolle Widerstandskultur zustandegekommen, die alte klassische national-etatistische Herrschaftsmentalität wurde geschwächt und praktische Lösungen für die Entwicklung eines auf Eigenkraft basierenden Lebensmodells wurden hervorgebracht. Die Solidarität und der Widerstand unseres Volkes sind ein Ausdruck der Zustimmung für unser Projekt und die Ziele unserer Partei. Diese Tatsache gibt uns festen Rückhalt. Die Kraft, die wir daraus ziehen, hat unser Selbstvertrauen gestärkt und unsere Leidenschaft für die Freiheit weiter entfacht sowie unsere Entschlossenheit, den Kampf auszuweiten, gestärkt. Unser Kongress hat die Kritikpunkte und Vorschläge unseres Volkes ausführlich behandelt. Sie wurden zu unserem Leitfaden für einen leistungsfähigeren Kampf. Durch die Beseitigung unserer Mängel und Fehler mit einem kritischen und selbstkritischen Ansatz geben wir entschlossen und gestärkt den Startschuss für eine neue Ära. Auf dem sechsten Kongress der PJAK wurden erneut der Kampf für die Befreiung von Rojhilat und die Demokratisierung des Iran als grundlegende Ziele festgelegt. Um eine demokratische Nation zu etablieren, stützt die PJAK ihre Strategie auf drei Hauptpfeiler: die Entwicklung einer demokratischen Politik, die Stärkung der innerkurdischen Einheit und der Aufbau einer demokratischen Union aller Nationen des Iran. Auf der Grundlage dieses Prinzips wurde ein Strategiepapier mit zehn Punkten erarbeitet:
Demokratische Politik, innerkurdische Einheit, Solidarität der Völker
1-Die PJAK wird sich auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene aktiv um die Durchbrechung der Isolation von Rêber Apo im Inselgefängnis Imrali bemühen. Die PJAK betrachtet jegliche Handlung gegenüber Rêber Apo als Handlung gegen den Willen, die Existenz und Identität der kurdischen Nation und behält sich vor, im Falle des Falles angemessen zu reagieren. Die PJAK macht sich das Paradigma Rêber Apos – den demokratischen Konföderalismus und das Projekt einer demokratischen Nation – zur Grundlage ihres Handelns und wird ihre gesamte Kraft mobilisieren, um die Perspektiven Rêber Apos umzusetzen.
2-Die PJAK betrachtet den Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung der Völker als einzigen Ausweg aus den bestehenden Krisen. Sie wird mit allen lösungsorientierten Kräften und Kreisen auf Grundlage der Strategie des dritten Weges gemeinsam handeln. Die PJAK bemüht sich mit all ihrer Kraft, alle Schwierigkeiten und Hindernisse auf dem Weg zur Lösung der kurdischen Frage zu beseitigen und Wege aus der regionalen Krise zu finden. Sie nimmt sowohl ideologisch als auch politisch eine Vorreiterrolle im Bereich der demokratischen Politik ein.
3-Für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage in Rojhilat und für die Demokratisierung des Iran nimmt sich die PJAK die demokratische Einheit der Völker und ihre Solidarität zum Prinzip. Hierfür hat sie eine präzise und klare Agenda erarbeitet. Sie sieht es als ihre Pflicht und Verantwortung an, die Gesellschaft zu organisieren. Um den Zusammenhalt unter den Völkern zu stärken, wird die PJAK strategische Allianzen eingehen und mit allen Spektren der Gesellschaft zusammenarbeiten.
4-Die PJAK stellt die Einheit unseres Volkes in den Mittelpunkt ihrer Anstrengungen und wird ihrer Rolle in allen praktischen Bereichen gerecht, um eine vereinte Front gegen Besatzungsbestrebungen in Kurdistan und Angriffe auf das kurdische Volk zu schaffen. In diesem Zusammenhang sieht sich die PJAK in der Verantwortung, das Projekt der innerkurdischen Einheit zu verwirklichen.
5-In den Prozess für den Aufbau einer innerkurdischen Einheit werden neben politischen Parteien auch Frauen, Jugendliche, Werktätige, Lehrbeauftragte, Kunstschaffende, Intellektuelle, Gewerbetreibende, Stammesvertretungen und religiöse Führungspersönlichkeiten aus ganz Ostkurdistan einbezogen. Die PJAK wird all ihre Kraft aufwenden, den Willen aller Gesellschaftsgruppen sichtbar zu machen.
6-Für die Etablierung der Einheit der Völker und die Demokratisierung des Iran sowie die Konstituierung einer demokratischen Politik wird die PJAK mit der gesamten kulturellen Vielfalt der Gesellschaft zusammenarbeiten. Das angestrebte Ziel ist eine demokratische Front.
7-Die PJAK betrachtet den Kampf um Frauenbefreiung als Grundlage ihres Paradigmas. Der Wille der Frauen und ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben bilden in allen Bereichen ihres Kampfes und ihren Aktivitätsfeldern die Basis ihrer Ideologie. Die PJAK leistet Widerstand gegen Sexismus, um mentale und strukturelle Barrieren zu beseitigen und Frauen die Teilhabe an der demokratischen Politik zu ermöglichen.
8-Um das Verständnis des altmodischen Zentralismus zu beseitigen, muss die Jugend die Möglichkeit haben, in der Gesellschaft eine federführende Rolle zu übernehmen. Die PJAK legt Wert auf Partizipation, Organisierung und die Schaffung einer Plattform, die es den jungen Generationen ermöglicht, sich in allen sozialen und politischen Bereichen, insbesondere im Bereich der demokratischen Politik, auszudrücken.
9-In Situationen, in denen die kurdische Nation und alle anderen Völker des Iran physischen und kulturellen Genoziden gegenüberstehen und von Besatzung, Angriffen und Unterdrückung konfrontiert sind, wird die PJAK ihren Widerstand gemäß der legitimen Selbstverteidigung ausrichten.
10-Ein erheblicher Teil der Probleme in Ostkurdistan und im Iran sind das Ergebnis der falschen Umweltpolitik des Systems. Die PJAK ist sich der gegenwärtigen Umweltkatastrophe bewusst und bemüht sich, die Gesellschaft aufzuklären und zu organisieren, um der zerstörerischen Politik des Regimes im Bereich der Ökologie entgegenzuwirken.
Abschließend bekräftigt die PJAK erneut ihre Beharrlichkeit für eine demokratische Lösung und die Einheit der Völker. Sie richtet ihre volle Aufmerksamkeit auf die erfolgreiche Umsetzung dieser Ziele und setzt sich mit ihren Schwächen auseinander, um diese aus dem Weg zu räumen. Mit einem offensiven Geist und revolutionärem Widerstand mobilisiert die PJAK ihre organisatorische Kraft, um auf allen Ebenen des Kampfes konstruktiv zu agieren. Unseren sechsten Kongress widmen wir Rêber Apo, den Gefallenen der Freiheitsbewegung, dem kurdischen Volk und den Völkern des Iran, den Frauen und der Jugend, allen politischen Gefangenen, den Angehörigen von Gefallenen und allen Kämpferinnen und Kämpfern der Freiheit. Wir rufen alle Teile der Gesellschaft auf, sich im Kampf gegen Besatzung, Unterdrückung und Faschismus in den Reihen der demokratischen Front zu positionieren und sich mit einem revolutionären Geist am Widerstand zu beteiligen.”