„Matriarchales Gedankengut“ - Urteilsbegründung gegen Leyla Güven

Das Schwurgericht Diyarbakır hat die Urteilsbegründung gegen Leyla Güven vorgelegt. Die von der kurdischen Politikerin ausgehende Gefahr scheint in der Tat ziemlich hoch zu sein, wird ihr doch „matriarchales Gedankengut“ vorgeworfen.

Mehr als drei Wochen nach dem skandalösen Urteil über mehr als 22 Jahre Haft gegen die kurdische Politikerin Leyla Güven wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft hat der 9. Schwurgerichtshof Diyarbakır (ku. Amed) seine schriftliche Urteilsbegründung vorgelegt. Das Papier liest sich wie eine Groteske aus der Feder blindwütiger Frauen- und Kurdenfeinde, drapiert mit den Kulissen einer Schaueroper. In der Person Leyla Güvens wird die matriarchale Frühgeschichte der Völker Mesopotamiens zum Feindbild für die Sicherheit des türkischen Staates stilisiert. Das ohnehin absurde Justizsystem der Türkei ist damit um eine Absurdität reicher.

„Separatistische und faschistische Rhetorik“

Wie kaputt das türkische Justizsystem ist, zeigt direkt zu Beginn in aller Klarheit die Annahme des Gerichts, die Einräumung von ausreichender Zeit für das Schlusswort der Verteidigung hätte einen Verstoß gegen das Prinzip des fairen Verfahrens dargestellt, weil der Prozess künstlich in die Länge gezogen und somit die angemessene Verfahrensdauer überschritten worden wäre. Deshalb sei darauf verzichtet worden. Bei der Überprüfung der Aussagen der Angeklagten will das Gericht dann festgestellt haben, dass zwischen Güven und „der Terrororganisation“ eine „organische Verbindung“ bestehe. Zu ihren Ungunsten habe gesprochen, dass die 56-jährige Politikerin nicht den Hauch eines „oberflächlichen Lösungsansatzes“ gezeigt hätte und ihre „separatistische und faschistische Rhetorik jenseits des Niveaus eines Diskurses“ gestanden habe. „Damit offenbarte die Angeklagte ihre tief empfundene Verbundenheit mit der Terrororganisation.“ Dass gerade die von einem Despoten für die Verfolgung von Kurdinnen und Kurden und anderen Regierungsgegnern instrumentalisierte türkische Justiz Leyla Güven faschistische Ansichten nachsagt, stellt einen Angriff auf die Menschenwürde der Politikerin dar.

Zurückgezogene Kronzeugenaussage kein Unschuldsbeweis

Das Urteil gegen Leyla Güven gründete hauptsächlich auf den Aussagen von Evindar Oruç, der Hauptzeugin der Anklage, die selbst wegen Terrorvorwürfen angeklagt ist. Als ehemalige Kämpferin in Nordsyrien, die sich zur medizinischen Behandlung ihrer Kriegsverletzungen nach Istanbul absetzte und dort festgenommen wurde, hatte Oruç vom türkischen Reuegesetz Gebrauch machen wollen. Beim polizeilichen Verhör sei ihr signalisiert worden, dass der Staatsanwalt ihr behilflich sein könne. Daraufhin habe sie ein Aussageprotokoll unterzeichnet, in dem es hieß, die Kontaktperson, die ihr von der türkisch-syrischen Grenze nach Istanbul verhalf, sei Leyla Güven gewesen. Bei ihrer Zeugenanhörung Ende Oktober zog Oruç ihre Aussage allerdings zurück und stellte klar, dass sie Güven persönlich nicht kenne, sie niemals getroffen habe und nicht wisse, ob sie eine Verbindung zur PKK habe: „Bei der Leyla, die mich nach Istanbul gebracht hat, handelte es sich definitiv nicht um Leyla Güven“. Im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung spielte die zurückgezogene Kronzeugenaussage aber keine Rolle, weil sie laut Gericht „nicht glaubwürdig“ sei.

Unterstützung für Ausrufung der Selbstverwaltung gleich Terrorismus

Ein weiterer maßgeblicher Grund für die Gerichtsentscheidung wäre zudem die „Feststellung“, der von Leyla Güven und Berdan Öztürk genderparitätisch geleitete zivilgesellschaftliche Dachverband „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) sei „zur Erweiterung der gesellschaftlichen Basis der Terrororganisation PKK/KCK“ gegründet und als „konstituierende Versammlung“ einberufen worden. Als vermeintlicher Beweis wird eine Deklaration des KCD herangezogen, die am 27. Dezember 2015 im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung unter dem Eindruck der Ausgangssperren in kurdischen Städten verabschiedet worden war. Die offen für Vorschläge und Kritik beschlossene Deklaration stellte damals wie heute eine dynamische Suche nach Diskussion und Annäherung dar, um die Konflikte zu beenden und einer Demokratisierung der Türkei und einer politischen Lösung der kurdischen Frage den Weg zu ebnen. Da der KCD darin Unterstützung für die Ausrufung der Selbstverwaltung durch die Volksräte in kurdischen Kommunen formulierte, seien die Aktivitäten des Zusammenschlusses als „terroristische Handlungen“ zu bewerten.

Türkische EGMR-Richterin ließ Demirtaş-Urteil durchsickern

Der KCD wird seit einigen Monaten von türkischen Gerichten als „Ebene der PKK-Hierarchie“ gehandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte in seinem Urteil vom 22. Dezember 2020 zu dem früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş jedoch festgestellt, dass es sich bei dem zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss um eine legale Organisation handelt und die Betätigung für ihn kein Beweis für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sein kann. Die Gefängnisstrafe gegen Leyla Güven war nur einen Tag vor dem Straßburger Urteil verhängt worden. Der Güven-Anwalt Şivan Cemil Özen monierte, dass die türkische Richterin am Straßburger Gericht, deren Bruder einst für die Erdoğan-Partei AKP im Parlament saß, die Beurteilung des KCD durchsickern ließ. Dadurch konnte der Prozess gegen die Politikerin noch vor Bekanntgabe des EGMR-Urteils mit einem Schuldspruch beendet werden.

TAK-Anschläge wurden YPG zugeschrieben

Als „Leiterin der Terrororganisation“ habe Leyla Güven durch ihre Teilnahme an 23 Kundgebungen bzw. ihren dabei gehaltenen Reden „im Einklang mit den Zielen der PKK/KCK“ gehandelt. In drei Fällen ließ sie sich zu Schulden kommen, die türkische Invasion in Nordsyrien kritisiert zu haben, „obwohl sich die Operationen gegen die YPG richteten, die an der türkischen Grenze eine kurdische Autonomieregion aufbauten, ähnlich wie sie im Nordirak existiert.“ Ihre Reden habe Güven trotz der im Zuge des „syrischen Bürgerkriegs“ an der türkischen Südgrenze erfolgten Angriffe gehalten. Auf mehreren Seiten rechtfertig das Gericht in diesem Zusammenhang die Angriffskriege gegen die Autonomiegebiete in Nord- und Ostsyrien und listet eine Vielzahl von Anschlägen in der Türkei auf, die von der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) und der als vermeintlicher „PKK-Arm“ gelisteten TAK begangen oder für sich reklamiert wurden. In der Urteilsbegründung behauptet das Gericht, die von TAK verübten Anschläge gingen auf das Konto „von PKK/PYD/YPG“. Dass sich die Türkei auf syrischem Territorium „niedergelassen“ habe, sei im Übrigen nach den Resolutionen der Vereinten Nationen „legitim“.

Verleugnung des Mannes als Prototyp des Menschen

Wie kafkaesk die Vorgänge bei der türkischen Justiz sind, veranschaulicht eine völlig verzerrte Auffassung der Richter über das Matriarchat. Die versuchte Kriminalisierung des anderen Umgangs mit mütterlichen Werten spiegelt die patriarchale Strategie der Deutungshoheit über und des absoluten Zugriffs auf Frauen wider, von der die Strafverfolgungsbehörden im Prozess gegen Güven offensichtlich geleitet wurden. So werden Äußerungen der ehemaligen Parlamentsabgeordneten über dieses Gesellschaftsmodell, das auf der Freiheit der Frauen (von ihrer Versklavung) und der Freiheit der Männer (von ihrem Machismo) gründet, als „hasserfüllte Inhalte“ bezeichnet, denen es an „Tiefe“ mangele. „Anhand ihrer Diskursanalyse ließ sich feststellen, dass sich die Angeklagte in einem verleugnenden Umgang mit den Abstammungsregeln der Menschheit über die väterliche Linie äußerte. Diese Ausführungen, denen es an Bedeutung und Tiefe fehlt und in denen die Mutter als vermeintlicher Prototyp gilt, erzeugen aggressive Gefühle und sinnlosen Hass.“ Darüber hinaus sei es Güvens Ziels gewesen, durch ihre Reden die „gewalttätigen Aktivitäten der bewaffneten Terrororganisation als ‚Widerstand‘ und ‚Kampf‘ zu legitimieren und verinnerlichen zu lassen, die staatliche Terrorbekämpfung als Krieg gegen die Zivilbevölkerung darzustellen, innerhalb der Gesellschaft die Ansicht zu verbreiten, dass Gewalt eine gültige und wirksame Methode sei, und Ideen, die terroristische Handlungen hervorrufen, gefestigt werden. Mit Blick auf die ständige Teilnahme der Angeklagten an Aktionen wurde festgestellt, dass sie ihre Zeit investiert und Anstrengungen unternommen hat, um diese Ziele zu erreichen.“ Die Türkei ist wahrhaftig eine Bananenrepublik.

Das Matriarchat

Das Matriarchat gilt als älteste Gesellschaftsform der Welt, so wurden Spuren mütterbezogener Gesellschaftsstrukturen bereits in der Altsteinzeit entdeckt. Entgegen weitläufiger Meinungen handelt es sich nicht um eine „Frauenherrschaft“, also um eine spiegelbildliche Umkehrung des Patriarchats, sondern um eine egalitäre Gesellschaft ohne institutionalisierte Hierarchien. Matriarchate haben sich durch Herrschaftsfreiheit, Geschlechter-Gleichwertigkeit, Basisdemokratie und Ökologie ausgezeichnet und gestalteten ihre menschlichen Gemeinschaften gemäß mütterlichen Werten wie Fürsorge, Frieden und Freiheit aller in grass-roots-Entscheidungsfindungen nach dem Konsens-Prinzip. Das Wort Matriarchat kommt von matri - Mutter - und arche - Ursprung - und bedeutet nicht, wie fälschlicherweise oft behauptet, die Herrschaft der Frau. Die Umdeutung des Begriffs entstand erst durch Prägung des Begriffs „Patriarchat“ für die Herrschaft des Mannes über die Frau.