HDP: Feindstrafrechtliches Urteil gegen Leyla Güven

Die kurdische Politikerin Leyla Güven ist in der Türkei wegen Terrorvorwürfen zu mehr als 22 Jahren Haft verurteilt worden. Die HDP spricht von „Feindstrafrecht“ und der Instrumentalisierung der Justiz als Werkzeug der Regierung.

Der Exekutivrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat die Haftstrafe gegen Leyla Güven als ein konkretes Beispiel für die Anwendung des Feindstrafrechts gegen die kurdische Gesellschaft bezeichnet. Mit dem Urteilsspruch gegen die Politikerin und ehemalige Parlamentsabgeordnete hätten die türkischen Justizorgane erneut demonstriert, dass sie nicht unabhängig seien und sich als Werkzeuge der Regierung instrumentalisieren lassen. „Dieses Urteil betrifft nicht nur Leyla Güven oder den KCD. Es handelt sich um eine Abstrafung alle Kurden und der gesamten Opposition“, heißt es in einer Stellungnahme aus Ankara.

Die 56-jährige Politikerin Leyla Güven ist am Montag von einem Gericht in Amed (tr. Diyarbakir) zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von 22 Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Zudem wurde ihre sofortige Verhaftung angeordnet. Güven, der im Juni das Abgeordnetenmandat aufgrund einer Haftstrafe wegen Terrorvorwürfen entzogen wurde, war in achtzehn Punkten angeklagt. Ihr wurde unter anderem die Mitgliedschaft und die Leitung des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses „Demokratischer Gesellschaftskongresses” (ku. Kongreya Civaka Demokratîk), dessen Ko-Vorsitzende sie ist, und die Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen zwischen den Jahren 2016 und 2018 vorgeworfen.

Obwohl der KCD nicht verboten ist, werden Delegierte oder Aktivisten seit Monaten systematisch mit Terrorparagraphen kriminalisiert. Zu den Anklagepunkten gegen Güven gehörten „Bildung und Führung einer Terrororganisation“, „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, „Anstachelung der Bevölkerung zu rechtswidrigen Versammlungen und Demonstrationen“ und „Unbewaffnete Teilnahme an rechtswidrigen Demonstrationen, die sich trotz Aufforderung nicht zerstreuten“. Bei den letzteren Anklagepunkten ging es insbesondere um Proteste während der Efrîn-Invasion Anfang 2018. Wegen ihrer Kritik an dem Angriffskrieg gegen den ehemals selbstverwalteten Kanton in Nordsyrien saß Güven bereits ein Jahr im Gefängnis.

HDP: Leyla Güven ist ein lebendes Denkmal der Würde

„Leyla Güven ist eine widerständige Frau, die sich zeit ihres Lebens für den Frieden eingesetzt hat. Sie ist ein lebendes Denkmal der Würde“, so der HDP-Exekutivrat. Weder Güven noch die HDP ließen sich durch Gefängnisstrafen und Verhaftungen von ihrem legitimen Kampf abbringen. Ebenso wenig wie das Urteil gegen die Politikerin sei die Kriminalisierung des KCD zu akzeptieren. „Der KCD als zivile und demokratische Institution gilt als Adressat demokratischer Verhandlungs-, Lösungs- und Friedensinitiativen und spielte auch in den kritischen Phasen der Verhandlungen für Frieden in diesem Land eine wichtige Rolle. Mit dem Urteilsspruch gegen Leyla Güven hat die Regierung jedoch gezeigt, dass sie auf ihrer Linie beharren wird, die kurdische Frage ungelöst zu lassen.“

Urteil ist nicht zu akzeptieren

In der jüngeren Vergangenheit gebe es eine Fülle von Beispielen, die aufzeigten, dass jeder Angriff auf den Kampf der Kurdinnen und Kurden um ihre Grundrechte und Frieden bei der Öffentlichkeit entsprechende Reaktionen hervorrufe, heißt es weiter. „Wir werden dieses ohne jegliche juristische Grundlage und nach dem Prinzip des Feindstrafrechts gefällte Urteil gegen Leyla Güven nicht akzeptieren.“

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).