Eine Delegation der IPPNW (Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkriegs) hat die Mahnwache von Emine und Ferit Şenyaşar in Riha (tr. Urfa) besucht. Emine Şenyaşar ist die Witwe von Hacı Esvet Şenyaşar und Mutter der gemeinsamen Söhne Celal und Adil. Die drei Männer wurden wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 in der Kreisstadt Pirsûs (tr. Suruç) Opfer von Lynchmorden, die am Rande einer Wahlkampftour des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız durch dessen bewaffnete Bodyguards und Verwandte ausgeführt wurden. Die türkischen Justizbehörden zeigen kein Interesse daran, die Morde restlos aufzuklären. Yıldız sowie dessen Mafiabande genießen nach wie vor ein Leben in Freiheit, nur einer von 23 Angreifern wurde bisher verurteilt.
„Das Massaker hat vor den Augen meiner Mutter stattgefunden“
Emine Şenyaşar und ihr bei dem Angriff ebenfalls verletzter Sohn Ferit sitzen seit dem 9. März vergangenen Jahres jeden Tag vor dem Justizpalast in Riha (Urfa), um die Bestrafung der Mörder ihrer Familienmitglieder einzufordern. Auch heute kamen Mutter und Sohn aus dem 42 Kilometer entfernt gelegenen Pirsûs (Suruç) in die Provinzhauptstadt, um Gerechtigkeit zu fordern. Die Mahnwache ist bisher von Tausenden Menschen mit Solidaritätsbesuchen unterstützt worden.
Die IPPNW-Delegation wurde begleitet von Rechtsanwältin Fazilet Taştan Arserim, Vizepräsidentin der Anwaltskammer Urfa. Ferit Şenyaşar berichtete der Delegation von dem Geschehen am 14. Juni 2018 und zeigte das Foto eines Krankenwagens, der damals ebenfalls angegriffen wurde. Der Überlebende sagte, dass das Massaker vertuscht werden soll, weil ein AKP-Abgeordneter darin verwickelt ist. Dabei sei die Beweislage eindeutig, so Ferit Şenyaşar: „Ein Arzt hat Aufnahmen von dem Massaker im Krankenhaus in seinem Social-Media-Account veröffentlicht. Das Massaker hat vor den Augen meiner Mutter stattgefunden.“
Dr. Gisela Penteker ist Ärztin in Niedersachsen, seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung und als Türkei-Beauftragte der Deutschen Sektion der IPPNW aktiv. In diesem Rahmen nimmt sie seit langer Zeit an Delegationsreisen ins kurdische Gebiet der Türkei, nach Nordsyrien/Rojava und in den Irak/Südkurdistan teil, um sich aktuell an Ort und Stelle ein Bild zu machen von der politischen und gesellschaftlichen Situation in dieser Region. Penteker erklärte, dass die Delegation den Fall der Familie Şenyaşar in ihren Bericht über die Delegationsreise aufnehmen wird.
Unterdessen wurde das Zusammentreffen vor dem Justizgebäude in Riha in gewohnter Manier von der Polizei gefilmt. Als die Delegationsmitglieder dagegen protestierten, entfernten sich die Polizisten aus der unmittelbaren Umgebung. Den türkischen Behörden und dem involvierten AKP-Abgeordneten ist die Dauermahnwache unangenehm. Mehrmals wurde die 71-jährige Emine Şenyaşar bereits festgenommen, zudem laufen mehrere Verfahren wegen vermeintlichen Beleidigungsdelikten gegen sie. Die meisten Prozesse wurden von Ibrahim Halil Yıldız angestrengt, dem Hauptverantwortlichen der Morde an den Şenyaşars. Im Februar wurde Emine Şenyaşar in einem dieser Verfahren zu einer Geldstrafe verurteilt – wegen Beleidigung eines Amtsträgers.
Das Massaker an der Familie Şenyaşar
Zehn Tage vor der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 suchte der AKP-Abgeordnete Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Verwandten und Leibwächtern den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar in Pirsûs (Suruç) auf. Nach einer verbalen Auseinandersetzung eröffneten die Bodyguards von Yıldız das Feuer. Mehmet, Celal und Adil Şenyaşar mit Schussverletzungen in ein Krankenhaus gebracht, wo zwei von ihnen letztlich ermordet wurden. Die Gerichtsmedizin stellte bei der Autopsie von Celal Şenyaşar Einschüsse von Kugeln aus mindestens sechs Schusswaffen verschiedenen Kalibers fest. Bei Adil Şenyaşar wurden an 14 Stellen des Körpers Schnitt- und Stichverletzungen wie auch Schlagverletzungen mit harten Gegenständen festgestellt. Im Bericht heißt es, dass Adil „extremer Gewalt“ ausgesetzt gewesen sei. In seinem Körper wurden siebzehn Kugeln verschiedenen Kalibers gefunden. Von diesen Projektilen waren fünf tödlich. Nur zwei der Geschosse wurden nicht aus dem Nahabstand abgefeuert. Der Vater Hacı Esvet Şenyaşar, der zu Fuß in das Krankenhaus herbeigeeilt war, wurde dort durch Schläge mit einer Sauerstoffflasche auf den Kopf schwer verletzt. Er starb einen Tag später, während die Beerdigung seiner zwei Söhne von der Polizei mit Tränengas angegriffen wurde.