Gever: Angeblicher Suizid in Justizzentrum

Ein 26-Jähriger soll im Justizzentrum der nordkurdischen Stadt Gever Selbstmord begangen haben. Gegen den jungen Mann lief ein Verfahren um angebliche Straftaten, die während den Ausgangssperren 2015 verübt worden sein sollen.

Ein 26-Jähriger im nordkurdischen Gever (tr. Yüksekova) soll sich in Polizeigewahrsam in den Tod gestürzt haben. Der Vorfall ereignete sich bereits am Freitag im Justizzentrum der Stadt in der Provinz Colemêrg (Hakkari). Der junge Mann sei unter laufender Reanimation in das städtische Krankenhaus gebracht worden, dort jedoch im Laufe des Abends seinen schweren Verletzungen erlegen, berichtete ein Sprecher der örtlichen Rechtsanwaltskammer. Die staatlichen Behörden haben sich bisher nicht geäußert.

Bei dem Toten handelt es sich um Ferhat Atilgan. Nach Angaben seiner Anwältin Dilvin Tekin hielt sich der Kurde am Vortag im Justizpalast auf, weil er von der Staatsanwaltschaft Yüksekova zu einer Beschuldigtenanhörung vorgeladen worden war. In dem Verfahren gehe es um vorgeworfene Straftaten, die Jahre zurückliegen. So werde Atilgan beschuldigt, während den ersten Ausgangssperren im Zuge der Militärbelagerung in Gever im Jahr 2015 Molotowcocktails hergestellt zu haben, die bei Angriffen auf Polizei und Armee verwendet worden sein sollen.

Eine zentrale Rolle bei der Verdachtsgewinnung gegen Atilgan spiele laut der Staatsanwaltschaft eine angebliche DNA-Spur, die der Mann als 18-Jähriger an einem Handschuh hinterlassen haben soll, erklärte Tekin. Doch ein Nachweis darüber, dass der Fäustling, sofern er überhaupt existiert, tatsächlich bei der Anfertigung von Molotowcocktails verwendet worden ist, mit denen die Staatsgewalt angegriffen wurde, liege gar nicht vor. Auch sei laut der Juristin völlig unklar, wie und vor allem auf welche Art und Weise der „Tatnachweis“ nach so langer Zeit plötzlich aufgetaucht ist und auf welcher Grundlage davon ausgegangen wird, dass es Atilgan gewesen sei, der den Handschuh besaß und für die Herstellung von Wurfbrandsätzen verwendet hätte. „Mein Mandat hat die Vorwürfe strikt zurückgewiesen“, so Tekin.

„Wir sprechen hier ohnehin von Behauptungen der Staatsanwaltschaft. Doch unmittelbar nach der Vernehmung teilte der Staatsanwalt meinem Mandanten wohl mit, dass er ihn mit einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls an die Strafabteilung des Amtsgerichts überstellen wird“, betonte Tekin. Kurz darauf habe sich Atilgan, der sich zu dem Zeitpunkt bereits in Polizeigewahrsam befand, aus der zweiten Etage in den Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes gestürzt.

Die Rechtsanwaltskammer Colemêrg wirft dem zuständigen Staatsanwalt indes vor, „gravierende Fehler“ bei der Vernehmung Atilgans begangen und „tendenziöse Ermittlungen“ geführt zu haben. Zudem könnte der Mann zwecks Einschüchterung womöglich gezielt unter Druck gesetzt worden sein. „Die psychische Ausnahmesituation muss dem Staatsanwalt doch klar gewesen sein. Warum wurde Ferhat noch im Büro des Anklägers mitgeteilt, dass er verhaftet werden würde, handelte es sich doch um eine erste Vernehmung?“ Beim Menschenrechtsverein IHD äußerte man den Verdacht, dass Atilgan bewusst in den Selbstmord getrieben worden sein könnte. Dort ist der junge Mann als Opfer der besonders im kurdischen Teil des Landes intensiv praktizierten Methode der staatlichen Informantenanwerbung bekannt. Aufgrund der Ablehnung einer Spitzeltätigkeit für die türkische Polizei habe er sich nicht zum ersten Mal im Visier befunden.

Und genau diese Repressionsbehörde soll nun die Hintergründe des angeblichen Suizids von Ferhat Atilgan aufklären. „Ein Fremdverschulden kann ausgeschlossen werden, wurde uns lapidar mitgeteilt. Die offizielle Erklärung steht aber noch aus“, teilte die Kammer mit. Dort sowohl beim IHD will man sich nun verstärkt dafür einsetzen, damit die Todesumstände des jungen Mannes restlos aufgeklärt werden und mögliche Verantwortliche identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden.