Am 5. Juni 2015, nur zwei Tage vor den Parlamentswahlen in der Türkei, verübte eine polizeibekannte Zelle der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Amed (tr. Diyarbakir) einen Anschlag auf eine Wahlkundgebung der HDP. Fünf Menschen – Ramazan Yıldız, Necati Kurul, Şehmuz Kaçan, Civan Arslan und Ali Türkmen – starben, über 200 wurden verletzt, 16 von ihnen schwer. Die kurdische Bühnenbildnerin und Filmemacherin Lisa Çalan etwa verlor bei dem Attentat beide Beine. Am Tatort, dem Bahnhofsplatz im zentralen Stadtteil Bajarê Nû (Yenişehir), fand am Sonntag eine Gedenkveranstaltung statt.
„In Kurdistan, einer Geographie der Unterdrückten, begreifen die Herrschenden den Tod als Normalzustand. Immer dann, wenn es gesellschaftliche Aufbrüche gibt, rollen Wellen des Todes durch unsere Regionen. Bis heute haben die Verantwortlichen keine Rechenschaft für die Morde abgelegt, die seit Gründung der Republik den Alltag in Kurdistan prägen. Das ermutigt die Täter, ihren Vernichtungskurs ungebrochen fortzusetzen“, sagte der Politiker Hayrettin Altun von der HDP-Schwesterpartei DBP zu Beginn der Gedenkveranstaltung. „Wir verurteilen die Massaker an unserem Volk und versprechen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um eine Wiederholung zu verhindern.“
Ein Überlebender, der bei dem Anschlag ein Bein verlor
An der Zusammenkunft beteiligten sich viele Menschen, darunter Überlebende des Anschlags, Aktivistinnen der kurdischen Frauenbewegung TJA und des Frauenvereins Rosa, Mitglieder der Parteien HDP, DBP, ESP und TIP, sowie zivilgesellschaftliche Organisationen. Cansu Yumuşak übermittelte eine Botschaft der Initiative der Suruç-Familien: „Das gemeinsame menschliche Schicksal hat uns miteinander verbunden. Die Solidarität, die geschaffen wurde, ist unauflöslich. Der Weg, den wir gemeinsam gehen, führt uns früher oder später zu Gerechtigkeit.“ Die Initiative, der Yumuşak angehört, setzt sich aus Hinterbliebenen der Opfer des IS-Anschlags auf die Grenzsstadt Suruç zusammen, deren kurdischer Name Pirsûs lautet. Dieses Attentat ereignete sich am 20. Juli 2015 während eines Treffens der Föderation der sozialistischen Jugendverbände (SGDF) im Kulturzentrum Amara. Etwa 300 Menschen hatten sich zu dem Zeitpunkt im Garten des Gebäudes versammelt, um kurz vor der Abfahrt nach Kobanê eine Presseerklärung anlässlich einer Kampagne für den Wiederaufbau der vom IS zerstörten Stadt in Nordsyrien abzugeben. Um die Mittagszeit verursachte ein Selbstmordattentäter in direkter Umgebung der SGDF-Versammlung eine Explosion, bei der 33 hauptsächlich junge Menschen ihr Leben verloren. Weitere 104 Menschen wurden bei dem Anschlag teils schwer verletzt. Der Attentäter gehörte derselben polizeibekannten IS-Zelle an, die bereits den Anschlag in Amed verübt hatte.
Die HDP-Abgeordnete Remziye Tosun merkte in einer Rede an, dass das Attentat von Amed auch sieben Jahre später noch immer nicht aufgeklärt ist. „Der Staat wusste Bescheid, sein Sicherheitsapparat unternahm nichts, um den Anschlag zu verhindern. In Angst um sein eigenes Überleben und um zu verhindern, dass die Völker zusammenfinden und Seite an Seite kämpfen, benötigt das Regime Massaker und Kriege. Wir kennen die Täter und versprechen, unseren Widerstand für Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie unbeirrt fortzusetzen.“ Die Kundgebung 2015 hatte genau wie der Wahlkampf der HDP unter dem Motto „Für die große Menschheit“ gestanden – eine Maxime, die die Vielfalt der Gesellschaft der Türkei reflektieren sollte.
Ähnliche Worte wie Tosun fand auch Mehtap Sakinci Coşgun, Vorsitzende des Vereins 10. Oktober. An diesem Tag im Jahr 2015 kamen 103 Menschen bei dem „Bahnhofsmassaker” von Ankara ums Leben, mehr als 500 wurden verwundet. Es war der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei und fand zu einer Zeit statt, in der Staatspräsident Tayyip Erdoğan sein Ein-Mann-Regime aufbaute. „Sieben Jahre sind seit dieser blutigen Anschlagsserie vergangen, doch noch immer wird uns Hinterbliebenen keine Gerechtigkeit zuteil. Alle Verantwortlichen und ihre Drahtzieher sollten wissen, dass der Kampf weitergeht, bis die wahren Mörder auf der Anklagebank sitzen“, sagte Coşgun. Bevor die Veranstaltung beendet wurde, wurden rote Nelken am Tatort niedergelegt.
Anschlag von „Dokumacı-Gruppe“ verübt
Der Anschlag von Amed wurde von der „Dokumacı-Gruppe“ ausgeführt, die sich in der Provinz Semsûr (Adıyaman) organisierte. Zwar wurden mehrere Mitglieder in der Folge verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt – die eigentlichen Drahtzieher in Syrien sowie die Polizisten und Militärs, die es zwei Tage vor dem Anschlag unterließen, den wegen Desertion gesuchten Attentäter Orhan Gönder festzunehmen und es stattdessen mit einer Personalienkontrolle in seinem Hotel beließen, kamen ungeschoren davon. Mit Burhan Gök, der zusammen mit dem belgischen Dschihadisten Ibrahim El Bakraoui an der syrisch-türkischen Grenze festgenommen worden war, wurde ein wichtiger Angehöriger der Dokumacı-Zelle und Verdächtiger beim späteren Prozess „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen. El Bakraoui schoben die türkischen Behörden nach ein paar Wochen in Gewahrsam nach Belgien ab. Dort sprengte er sich im März 2016 in der Abflughalle des Flughafens Brüssel-Zaventem in die Luft.