Im Prozess um die Lynchmorde während einer von bewaffneten Leibwächtern begleiteten Wahlkampftour eines früheren AKP-Abgeordneten 2018 in Pirsûs (tr. Suruç) hat es eine überraschende Wendung gegeben. Der im April 2021 unter anderem wegen der vermeintlichen Tötung eines Angreifers zu mehr als 37 Jahren Haft verurteilte Fadıl Şenyaşar kommt frei. Die Staatsanwaltschaft in Meletî (Malatya), wo der Prozess „aus Sicherheitsgründen“ verhandelt wird, beantragte bei der Hauptverhandlung am Freitag eine Erstreckung der Beweisaufnahme auf neue Beweismittel und die Entlassung Şenyaşars aus dem Gefängnis in den Hausarrest. Auch drei der Angreifer, darunter ein wegen Mordes zu 18 Jahren Haft Verurteilter, wurden unter Hausarrest gestellt.
Blutbad in Pirsûs
Was ist in Pirsûs damals geschehen? Am 14. Juni 2018, zehn Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei, suchte der AKP-Politiker Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Verwandten und Leibwächtern in der kurdischen Stadt Pirsûs den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar auf. Nach einer Diskussion um Stimmen bei der Wahl kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung, die in eine Schießerei mündete. Überwachungskameras fingen ein, dass es die Begleiter von Yıldız waren, die mit Messern, Stöcken, Pistolen und Langfeuerwaffen zum Angriff auf die Ladenbetreiber übergingen. Die Brüder Celal und Adil Şenyaşar sowie Mehmet Şah Yıldız, einer der Angreifer, brachen mit Stich- und Schussverletzungen blutüberströmt zusammen. Auch Ferit und Fadıl Şenyaşar wurden verletzt. In verschiedenen Krankenhäusern, auf die die Verletzten verteilt worden waren, wurde das Blutbad fortgesetzt. Am Ende waren vier Menschen tot: Der Familienvater Hacı Esvet Şenyaşar, seine Söhne Celal und Adil Şenyaşar sowie der Angreifer Mehmet Şah Yıldız.
Angreifer von eigenen Leuten getötet
Fadıl Şenyaşar war verurteilt worden, weil er Mehmet Şah Yıldız erschossen haben soll und fünf weitere Personen versucht hätte, zu ermorden. Dabei gibt es Videoaufnahmen, auf denen zu erkennen ist, dass er von eben jenen fünf Angreifern verprügelt wird, während Yıldız von einer aus anderer Richtung kommenden Kugel getroffen wird – vermutlich aus der Waffe seines Bruders – und den Mann zusammensacken lässt. Dennoch kam er ins Gefängnis. Von den Angreifern wurde nur Enver Yıldız wegen Mordes verurteilt: zunächst zwar noch zu einer lebenslänglichen Haftstrafe – das Strafmaß wurde dann aber auf 18 Jahre herabgesetzt. Das Gericht wertete es als strafmildernd, dass die Tat spontan aus einem eskalierenden Streit heraus geschehen sei. Demgegenüber ist die Verteidigung der Şenyaşars überzeugt, dass es sich um einen geplanten Angriff handelte. Der Prozess wird am 21. Februar 2025 fortgesetzt.