An einem Strafgericht in Amed (tr. Diyarbakır) ging am Freitag ein sich seit Jahren hinziehender Prozess zu Ende, der ein eindeutiges Bild über die rechtsstaatlichen Zustände in der Türkei zeichnet. Angeklagt war der Politiker und Rechtsanwalt Feridun Çelik, der von 1999 bis 2004 Oberbürgermeister der kurdischen Großstadt war. Ihm wird unter anderem zur Last gelegt, sich für das Graswurzelbündnis „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) engagiert zu haben. Dafür wurde er nun zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von mehr als sechs Jahren verurteilt – auf Grundlage des türkischen Antiterrorgesetzes. Das Problem dabei: der KCD ist legal.
Gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen
Der KCD (ku. Kongreya Civaka Demokratîk) ist ein Bündnis von Basisinitiativen. Er fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Offiziell gegründet wurde der KCD schließlich im Jahr 2007 von hunderten Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt wurden. Gegliedert ist der KCD in Kommissionen, für die eine Geschlechterquote gilt. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Zusammenarbeit von Regierung und KCD
Zwischen 2005 und 2014 arbeitete die türkische Regierung intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der Erdoğan-Partei AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle, der heute im Exil in Europa lebt, gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Dennoch werden tatsächliche oder vermeintliche Delegierte von der türkischen Justiz nach Terrorparagrafen kriminalisiert – entgegen einem Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Diese hatte in ihrem Urteil vom 22. Dezember 2020 zu Selahattin Demirtaş nicht nur die Freilassung des früheren HDP-Vorsitzenden angeordnet, sondern auch festgestellt, dass der KCD eine legale Organisation ist und die Betätigung für ihn kein Beweis für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sein könne.
Teilnahme an Versammlungen = Mitglied einer Terrororganisation
Im Fall von Feridun Çelik geht das Gericht davon aus, dass der Politiker von 2012 bis 2013 als Mitglied der Komitees für Diplomatie und Menschenrechte im KCD mitwirkte. Beweise für diese Annahme wurden von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht vorgelegt. Auch steht der Name des 57-Jährigen auf keiner der Mitgliedslisten, die bei Durchsuchungen in den Räumlichkeiten der Organisation in den vergangenen Jahren beschlagnahmt worden waren. Çelik selbst war zur Urteilsverkündung nicht anwesend und ließ sich im Gerichtssaal von seinen Anwälten Sinan Tanrıkulu und Devrim Barış Baran verteidigen. Beide Juristen wiesen sämtliche Vorwürfe der Anklage zurück und betonten, dass über eine mögliche Anwesenheit auf KCD-Veranstaltungen keine Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“ konstruiert werden könne. „Wenn dem doch so sei, müssten auch diverse Regierungsvertreter, die mit dem KCD im Rahmen des Friedensprozesses Gespräche geführt haben, verklagt werden“, monierte Rechtsanwalt Tanrıkulu.
Belastungszeuge aus Zeugenschutzprogramm geflogen
Der zweite Tatvorwurf klang laut Tanrıkulu noch „kafkaesker” als seine Phantasie es ihm erlauben würde. So soll Feridun Çelik während seiner Amtszeit als Bürgermeister kommunale Gelder in Millionenhöhe zur Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) – dem Dachverband der kurdischen Befreiungsbewegung, dem auch die PKK angehört – geschafft haben. Die Säcke voller türkischer Liras seien auf Anordnung von Çelik „in den Bergen” gelandet. Dies hätten Aussagen eines „anonymen Zeugen“ der Anklage ergeben, so die Staatsanwaltschaft. Rechtsanwalt Devrim Barış Baran bezeichnete den Vorwurf als „an Absurditäten kaum zu überbieten“. Die KCK wurde erst 2005 gegründet, da saß Çelik schon seit einem Jahr nicht mehr im Rathaus von Amed, betonte Baran. Darüber hinaus stamme die von der Anklagebehörde als „schwer belastend“ bezeichnete Aussage gegen Çelik von einer Person, die wegen nachgewiesener Falschaussagen aus dem Zeugenschutzprogramm ausgeschlossen worden sei. Es liege sogar ein richterliches Urteil vor, wonach die Aussagen besagter Person in einem Gerichtsverfahren „nicht herangezogen oder in anderer Weise verwertet werden“ dürften. Der Mandant sei deshalb freizusprechen.
Urteil noch nicht rechtskräftig
Die Richter in Amed zeigten sich unbeeindruckt und verurteilten Feridun Çelik zu insgesamt sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis. Darüber hinaus wurden zuvor aufgehobene Meldeauflagen wieder in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass der Politiker nun regelmäßig bei den Polizeibehörden vorstellig werden muss und das Land nicht verlassen darf. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Verteidigung hat noch im Gerichtssaal Berufung angekündigt.