Im Interview mit ANF hat sich Bahoz Erdal, einer der Kommandanten des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel), zu den jüngsten Luftangriffen der türkischen Armee in Südkurdistan und dem daraufhin ausgebrochenen Volksaufstand geäußert. Am 23. Januar starben bei einem Luftangriff auf die Gemeinde Dêrelûk (Deralok) nahe der Stadt Amêdî (Amediye) in der Region Dihok mindestens vier Zivilisten. Im nahegelegenen Hetutê wurden zwei weitere Zivilisten bei Luftschlägen der türkischen Armee getötet. Als Reaktion darauf stürmte die Bevölkerung eine türkische Militärbasis in Şîladizê (Shiladze) und setzte diese in Brand.
Koordinierter, gezielter Angriff
„Zunächst spreche ich den Familien der Luftangriffsopfer im Namen der HPG unser Beileid aus. Wir bedauern diese Verluste zutiefst und möchten den Angehörigen unser aufrichtiges Mitgefühl und tiefe Anteilnahme übermitteln“, sagte Erdal. Zum bisherigen Stand der Untersuchungen, die von der regionalen HPG-Kommandantur eingeleitet wurden, erklärte Erdal: „Während die vier Männer im Zap angelten und sich zwei weitere Zivilisten im Umland des Dorfes Hetutê aufhielten, flogen vier Aufklärungsdrohnen über der Region. Später wurde das Gebiet von Kampfjets bombardiert. Es handelte sich nicht um einen einfachen Luftschlag. Diese Menschen wurden über einen Zeitraum von mindestens eineinhalb Stunden überwacht und mehrfach bombardiert, so dass niemand überlebt“. Ein ‚Unfall‘ könne daher definitiv ausgeschlossen werden, so der Guerillakommandant.
„Anhand ihrer Kleidung und ihres Verhaltens war eindeutig festzustellen, dass es sich bei diesen Männern um Zivilisten gehandelt hat“, fuhr Erdal fort und wies auf die Intensität der Luftangriffe hin, die darauf abzielten, möglichst alle Zivilisten zu töten.
Ähnlichkeiten mit Roboskî-Massaker
Von der Vorgehensweise her weise der Luftangriff Ähnlichkeiten mit dem Massaker von Roboskî auf, so Erdal. „Wir können sagen, dass es sich hier um ein zweites Roboskî-Massaker handelt. Der Angriff auf diese Zivilisten erfolgte gezielt. Es ist offensichtlich, dass dieses Massaker bewusst herbeigeführt wurde“.
Es sei nicht das erste Massaker des türkischen Staates, sagte Erdal und deutete auf die Intention hin, die dahinterstecke: „In Anbetracht der jetzigen Phase auf Massaker wie diese zu bestehen, ist nichts weiteres als ein erneuter Versuch, unser Volk einzuschüchtern. Mit diesem Angriff wollten die Besatzer das Ausmaß ihrer Macht demonstrieren“, so Erdal.
Massaker eine Botschaft an Hewlêr und Volk im Süden
Der türkische Staat bezwecke mit dem Angriff, die in Süd-, West-(Rojava) und Nordkurdistan mit dem Befreiungskampf der PKK bewirkten Veränderungen und Errungenschaften zu zerschlagen. Gleichzeitig sei das Massaker auch eine Botschaft an die KRG in Hewlêr, sagte Bahoz Erdal: „Mit dem Druck, der auf Hewlêr ausgeübt wird, soll die gesamte Bevölkerung im Süden eingeschüchtert werden. Wir sind in einer Phase, in der neue Hoffnungen aufkeimen, wonach unsere Befreiungsbewegung wichtige Schritte unternimmt. Dieser Angriff ist Teil der Interventionen des türkischen Staates und eine Reaktion darauf, dass die Kurden sich nicht gegeneinander aufstacheln und gegenseitig bekämpfen. Die Devise lautet: ‚Wenn ihr euch nicht bekämpft, reagieren wir auf diese Weise‘“.
Aufstand in Şîladizê ist legitim
In diesem Sinne sei der Volksaufstand in Şîladizê legitim, sagte Erdal. Dort hatte die Bevölkerung aus Protest gegen türkische Militäraktivitäten in Südkurdistan einen türkischen Stützpunkt gestürmt. Soldaten schossen daraufhin in die Menschenmenge. Unter den Todesopfern befindet sich auch ein 13-Jähriger.
„Es war eine patriotischer und nobler Akt. Wir gratulieren unserem Volk für diese Handlung und begrüßen sie. Die Menschen von Şîladizê und Dêrelûk haben nichts Falsches getan, sondern ihren rechtmäßigen Anspruch durchgesetzt. Wir erwarten, dass die Regionalregierung und ihre Politiker der Haltung der Bevölkerung Achtung erweisen und sie respektieren“, forderte Erdal. Die Äußerungen des KRG-Präsidenten Nêçîrvan Barzanî, der Angriffe des türkischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung rechtfertigte und auf die Präsenz der PKK in Südkurdistan zurückführte, wies Bahoz Erdal zurück. „Diese Behauptungen entsprechen nicht der Wahrheit. Solche Argumente motivieren den türkischen Staat nur, seine Angriffe gegen unsere Bevölkerung zu intensivieren und der Besatzung in Südkurdistan Legitimität zu verleihen. Mit Worten wie diesen erteilt man solch barbarischen Angriffen seine Zustimmung“, sagte Erdal.
Präsenz der PKK wichtig für Stabilität der Region
Die Anwesenheit von Kräften der PKK stelle keine Bedrohung für die Menschen in der Region dar, insbesondere für die Bevölkerung in Behdînan. Im Gegenteil, die PKK-Präsenz sei aus politischer und militärischer Sicht eine Unterstützung, so Erdal. Der Kommandant unterstrich, dass es die Guerilla der PKK sei, die das Volk vor Angriffen auf die Region schütze. „In Şengal und Kerkûk kämpfte die Guerilla Schulter an Schulter mit der Peschmerga gegen die Banden des IS. Unsere Anwesenheit ist sowohl für die Stabilität und den Frieden in der Region wichtig, als auch für das Erstarken der Autonomieregion“.
Bedeutung türkischer Militärbasen in Südkurdistan
Der türkische Geheimdienst hat sich bereits 1991 in Südkurdistan eingerichtet und ab 1997 Dutzende Militärbasen errichtet. „Was für einen Nutzen bringen diese Stützpunkte?“, fragt Bahoz Erdal. „Es sind Besatzer, die eine Last auf den Schultern Südkurdistans sind. Sie sind eine fremde Macht. Bei den Stützpunkten, die Informationen und Koordinaten für Angriffe liefern, handelt es sich um die Basen in Sirê, Bamerne und Kanîmasî. Die richtige Frage wäre also: Wieso gibt es diese Stützpunkte dort? Die Bevölkerung im Süden akzeptiert ihre Präsenz nicht. Die türkische Besatzung behindert den Frieden und die Stabilität im Land. Wir als Bewegung dagegen sorgen für Stabilität in der Region. Die türkische Besatzungsmacht hat mit ihren Angriffen nur verdeutlicht, dass sie gegen alle Kurden feindlich gesinnt ist. Ganz gleich, wo immer auch die Kurden sind; sobald sie über Stärke und Organisierung verfügen, sind sie für die Türkei ein zu bekämpfendes Ziel“.
Stabilität im Süden grundlegendes Ziel
Ein friedliches und stabiles Leben für die Menschen in Südkurdistan sei eines der grundlegenden Ziele der kurdischen Befreiungsbewegung, sagte Bahoz Erdal. Der Bevölkerung sei dies zwar klar, die Regionalregierung stelle sich dieser Tatsache jedoch nicht: „Es ist eine unserer elementarsten Pflichten als Guerilla Kurdistans, in Başûr den Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Dafür und für die Verteidigung unseres Volkes sind wir bereit, Opfer zu bringen. Ganz gleich, welche Aufgabe uns zuteilwird, werden wir sie selbstlos ausfühen“, so Erdal.
Haltung des Volkes in Behdînan richtig deuten
Es sei keine Lösung zu verhindern, dass sich die Bevölkerung in Gebieten bewegt, in denen das türkische Militär präsent ist. Barzanî hatte nach dem Volksaufstand in Şîladizê behauptet, Angriffe der türkischen Luftwaffe richteten sich ausschließlich gegen „PKK-Zonen“. Bahoz Erdal kritisierte diese Worte und Aussagen, wonach Bewohner*innen angewiesen worden seien, sich nicht in Regionen mit türkischen Militärstützpunkten aufzuhalten. „Wieso sollten die Menschen das tun? Schließlich ist es der türkische Staat, seine Stützpunkte und Luftangriffe in Südkurdistan, die die Bewegungsfreiheit der Menschen hier einschränken“, sagte Erdal.
Grundsätzlich habe niemand etwas gegen politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen der KRG und der Türkei. „Es sollten allerdings rote Linien geben. Der türkische Staat muss die Bevölkerung von Başûr respektieren. Tut er dies? Nein! Dagegen muss man aktiv werden. Dass die PKK beschuldigt wird, mit ihrer Anwesenheit verantwortlich für die Angriffe auf Südkurdistan zu sein, wird auch von der ansässigen Bevölkerung nicht akzeptiert. Sie stört sich nicht an der Guerilla der PKK, da die Guerilla dem Volk nicht schadet. Im Gegenteil, sie hilft und unterstützt, wo sie nur kann. Die lobenswerte Haltung des Volkes in der Region Behdînan muss richtig gedeutet werden. Sie ist eine Botschaft an alle Kräfte, die sich für die kurdische Sache einsetzen. Das Volk erwartet diese Haltung auch von allen politischen Parteien und Kräften. (Der Aufstand) ist eine Aufforderung zu einer nationalen Einheit und einem Nationalkongress. So interpretieren wir jedenfalls den Aufstand“.