Şengal: „Erdoğan ist ein Mörder“

In Sinûnê haben ezidische und arabische Anwohner:innen gegen den türkischen Drohnenterror in der Şengal-Region protestiert. Seit Ende Februar hat die Türkei drei gezielte Luftangriffe in der Region verübt. Die Opfer sind Überlebende des IS-Genozids.

Türkischer Drohnenkrieg

Der türkische Staat hat seit dem 29. Februar drei gezielte Drohnenangriffe in der Şengal-Region im Nordirak verübt. Zuletzt wurde am Dienstag ein Auto auf einer Straße in der Hochebene Serdeşt bombardiert, zwei Frauen wurden verletzt. Nach Angaben eines Vertreters der Selbstverwaltung von Şengal richtete sich der Angriff gegen Zivilpersonen, die den Genozid der Terrororganisation „Islamischer Staat” (IS) 2014 überlebten.

In der Gemeinde Sinûnê hat heute eine Demonstration gegen den türkischen Drohnenterror stattgefunden. An der von der Selbstverwaltung organisierten Protestaktion nahmen ezidische und arabische Anwohner:innen teil. Kasim Murat erklärte im Namen der Selbstverwaltung: „Erdoğan ist ein Feind der Menschheit. Der gestrige Angriff hat zivile Überlebende des Ferman getroffen.“ Als Ferman bezeichnen die Ezid:innen die wiederkehrenden Massaker gegen ihre Gemeinschaft.

„Der türkische Staat kann den Freiheitsmarsch unseres Volkes nicht stoppen. Wenn einem Volk Rechte und Freiheiten genommen werden, ist Widerstand die einzige Alternative. Der Wille der Menschen ist stärker als jeder Angriff. Erdoğan sollte klar sein, dass der Kampf gegen Unterdrückung und Despotismus weitergehen wird.“

Zozan Şengalî wies als Vertreterin der ezidischen Frauenbewegung TAJÊ darauf hin, dass Luftangriffe nicht die einzige Methode sind, mit der der Willen der Bevölkerung von Şengal gebrochen werden soll. Der türkische Staat habe Kollaborateure in der Region und führe auch einen psychologischen Krieg. „An den Angriffen auf unser Volk darf sich niemand mitschuldig machen. Wir werden bis zum Sieg weiterkämpfen“, so die Aktivistin. Die Demonstration endete mit den Parolen „Erdoğan ist ein Mörder“ und „Bijî Berxwedana Şengalê" (Es lebe der Widerstand in Şengal).

Hintergrund: Türkischer Drohnenterror in Şengal

Unter dem Vorwand der „Bekämpfung der PKK“ kommt es seit 2017 immer wieder zu Luftschlägen durch türkische Kampfflugzeuge und Drohnen auf Şengal. Konkrete Ziele sind hierbei zumeist Einrichtungen, die unter dem Eindruck des IS-Genozids gegründet wurden – wie etwa das Verwaltungsgremium „Demokratischer Autonomierat Şengal“ (MXDŞ) oder die Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ. Bei den Todesopfern handelt es sich hauptsächlich um Menschen aus der Zivilbevölkerung – oftmals sind es Überlebende des Völkermords von 2014.

NATO-Staat ermordet Genozid-Überlebende

Der letzte bekannte Drohnenangriff der Türkei in Şengal war Anfang März verübt worden. Dabei wurde Mecdel Feqîr, ein Kommandant der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und Überlebender des IS-Genozids von 2014, ermordet. Die Killermaschine hatte nahe Til Êzêr einen Kontrollpunkt bombardiert, an dem Feqîr im Einsatz war. Er wurde 32 Jahre alt und hinterließ Frau und Sohn. Wenige Tage zuvor war in Şengal bereits der Zivilist Sadun Mirza Ali von einer türkischen Drohne getötet worden. Der Ezide war Vater von drei Kindern und arbeitete als Fahrer für das Gefallenenkomitee der Selbstverwaltung. Ende Dezember kamen fünf Arbeiter aus Rojava bei einem Drohnenangriff in Şengal ums Leben.

Alle Angriffe in Şengal sind eine Fortsetzung des Völkermords

Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) bewertet die tödlichen Anschläge als Angriff auf den freien Willen der ezidischen Gemeinschaft. „Der türkische Staat will den Völkermord an den Ezid:innen vollenden, den der IS nicht vollenden konnte. Alle Angriffe auf Şengal dienen diesem Zweck“, erklärte die KCK Anfang März.

Die türkische Regierung gibt vor, in Şengal ausschließlich gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die das ezidische Volk gegen den IS verteidigt hatte und seit 2018 nicht mehr in der Region präsent ist, vorzugehen und beruft sich dabei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Zahlreiche Organisationen und Gremien, darunter auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, weisen dagegen auf Verstöße der Türkei gegen das Gewaltverbot hin, da es gar keine Selbstverteidigungssituation gebe.

Der Deutsche Bundestag hat den IS-Genozid von 2014 als Völkermord an den Ezid:innen anerkannt. Die Bundesregierung steht jedoch bei den Massakern an der kurdischen Bevölkerung, egal in welchem Teil Kurdistans, grundsätzlich, stillschweigend und praktisch auf der Seite der Türkei. So wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Ezidinnen und Eziden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, obwohl die Ampel die Rückführungen von ezidischen Geflüchteten im vergangenen Jahr noch als „unzumutbar“ bezeichnet hatte. In einigen Bundesländern ist die Abschiebung ezidischer Frauen und Kinder vorübergehend ausgesetzt worden.