Zehra Doğan unter Top 100 der einflussreichsten Figuren der Kunstwelt

Das britische Magazin „Art Review“ hat die 100 einflussreichsten Personen der Kunstwelt gekürt. Die kurdische Künstlerin und Journalistin Zehra Doğan steht auf Platz 98 der Liste.

Die britische Zeitschrift ArtReview gilt weltweit als führendes unabhängiges Magazin über zeitgenössische Kunst. „Als wegweisende Zeitschrift über moderne Kunst lässt es sich Art Review nicht nehmen, einen unverstellten und kritischen Blick auf die Werke aufstrebender und bekannter Künstlerinnen und Künstler zu werfen“, heißt es zum Selbstverständnis des 1948 gegründeten Magazins. Seit 2002 veröffentlicht ArtReview seine jährliche Liste „Power 100“, ein Leitfaden über die derzeit einflussreichsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst. Die Liste wird von einem anonymen internationalen Komitee aus Fachleuten der Kunstwelt zusammengestellt, beurteilt werden die Fähigkeiten der Personen oder Bewegungen, die Art von Kunst, die heute produziert wird, zu beeinflussen. Auch müssen die Kunstschaffenden einen internationalen und nicht ausschließlich nationalen Einfluss haben.

Auf Platz 1 steht dieses Jahr jedoch nicht eine Person, sondern ein digitales Zertifikat namens ERC-721. Diese NFT-Software ermöglicht den Handel mit digitaler Kunst. Platz 2 nimmt die Autorin Anna L. Tsing ein, die den Bestseller „Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus“ schrieb. Auf Platz 3 liegt das indonesische Kollektiv Ruangrupa, das für Vielfalt steht und den Zeitgeist widerspiegelt. Zudem übernimmt die Gruppe die künstlerische Leitung der kommenden „Documenta“ in Kassel.

Auf der Liste von ArtReview mit den 100 „mächtigsten Personen der Kunstwelt“ befindet sich auch eine Figur aus der kurdischen Kunstszene: Zehra Doğan. Sie belegt den 98. Platz auf der Liste. Im Leitfaden des Magazins heißt es zu ihrem Background: „Die Journalistin, Künstlerin und Aktivistin hat mit einer Reihe von Einzelausstellungen in Italien bei Padiglione d'Arte Contemporanea und der Galerie Prometeo, beide in Mailand, auf die Verfolgung der Kurden aufmerksam gemacht, während ihre Arbeiten in Ausstellungen im Madrider Cruce; im Berliner Kiosk; in der Photobastei in Zürich, sowie in einer Gruppenausstellung bei ‚Kunst und Bau Kriminalabteilung Stadtpolizei Mühleweg‘ zu sehen waren. Anfang dieses Jahres erklärte Doğan gegenüber ArtReview: ‚In sexistischen Diskursen wird die Erde als weiblicher Körper personifiziert und wird, wie der Körper einer Frau, zu etwas, das man besitzen kann. Ich zeichne und male Frauen, die sich diesem Schicksal widersetzen‘. Ihr Widerstand hat sie mehrfach ins Gefängnis gebracht, und in Prison n°5, einer Graphic Novel, die sie in diesem Jahr veröffentlicht hat (und für die sie 2021 mit dem Le-Soir-Preis ausgezeichnet wurde), kehrt sie zu ihrer Erfahrung der Inhaftierung im Gefängnis von Diyarbakır zurück. Zehra. Das Mädchen, das den Krieg malte, ein Kinderroman von Antonella De Biasi, der auf ihrer Lebensgeschichte basiert, kam ebenfalls in die Buchläden, mit Illustrationen von Doğan.“

Eşa Şahmeran, (Der Schmerz der Şahmeran), gemalt im Gefängnis von Mardin, 2016

Wer ist Zehra Doğan?

Zehra Doğan gehört zu den Gründerinnen der weltweit ersten feministischen Frauennachrichtenagentur JINHA, die im Zuge des Ausnahmezustands im Oktober 2016 per staatlichem Dekret geschlossen wurde. Als Künstlerin thematisiert sie die politischen Verhältnisse und das Leben von Frauen. Während des demokratischen Selbstverwaltungswiderstands in Nordkurdistan hatte die Journalistin aus Nisêbîn und Cizîr berichtet. 

Aufgrund ihrer Berichterstattung und einem Bild, das die türkische Flagge über von Panzern zerschossenen Häusern zeigt, wurde Zehra Doğan im Juli 2016 in Untersuchungshaft genommen. Die Anklage lautete „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ und „Terrorpropaganda“. Fünf Monate später wurde Zehra Doğan vom ersten Vorwurf freigesprochen, aber ein Berufungsgericht bestätigte im Juni 2017 das erstinstanzliche Urteil über zwei Jahre, neun Monaten und 22 Tage Gefängnis wegen ihrer Aktivitäten in digitalen Netzwerken und der vermeintlichen Terrorpropaganda. Sie kam erneut ins Gefängnis, zunächst in Amed (Diyarbakir), später wurde sie mit zwanzig weiteren Frauen gegen ihren Willen nach Tarsus verlegt.

In Haft machte Zehra Doğan Reportagen mit ihren Mitgefangenen und schrieb unter anderem die verbotene pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem von Hand weiter. Diese Ausgaben wurden aus dem Gefängnis geschmuggelt. In ihrer Zelle hatte sie ein Atelier eingerichtet, aber weder Leinwand noch Pinsel oder Papier zur Verfügung. Farben stellte sie mit Essensresten, verfaultem Gemüse, Gewürzen, Medikamenten und sogar Menstruationsblut her, oder sie legte gemalte Postkarten, die ihr eine Freundin aus Frankreich schickte, in Wasser ein und siebte das gefärbte Wasser ab. Ihre Pinsel stellte sie aus Taubenfedern her, die in den Gefängnishof fielen, oder aus ihren eigenen Haaren, die sie an einen Bleistift klebte. Bei ihren wöchentlichen Besuchen brachte ihre Mutter weiße Kleider mit, die sie als Leinwand benutzte und mit der Schmutzwäsche wieder nach draußen schickte.

Aus dem Gefängnis entlassen wurde Zehra Doğan im Februar 2019. Weltweit bekannt wurde sie durch ein riesiges Wandbild, mit dem der britische Street-Art-Künstler Banksy in New York gegen ihre Inhaftierung protestierte. Das etwa 20 Meter breite Kunstwerk zeigte stellvertretend für die Tage ihrer Haftstrafe eine Strichliste, die an einer Stelle zugleich ein Gefängnisgitter darstellt. Aktuell lebt Zehra Doğan in London.