Unter dem Titel „Der Riss beginnt im Inneren“ hat am Samstag der Hauptakt der 11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst in der Bundeshauptstadt begonnen. Bis zum 1. November werden an verschiedenen Ausstellungsorten feministische und politische Kunst aus aller Welt präsentiert. Von der heute in London lebenden kurdischen Künstlerin und Journalistin Zehra Doğan ist eine in Haft gezeichnete Graphic Novel ausgestellt, die von Folter, Leid und Solidarität der Frauen im türkischen Gefängnis handelt.
„Die versteckten Zeichnungen“ Xêzên Dizî entstanden mit Kohlestiften auf 103 Blatt Briefpapier, das Doğan von einer Freundin geschickt wurde. Zehra Doğan gehört zu den Gründerinnen der weltweit ersten feministischen Frauennachrichtenagentur JINHA, die im Zuge des Ausnahmezustands per staatlichem Dekret geschlossen wurde. Als Künstlerin thematisiert sie die politischen Verhältnisse und das Leben von Frauen. Während des demokratischen Selbstverwaltungswiderstands in Nordkurdistan 2015/2016 hatte die Journalistin aus Nisêbîn (Nusaybin) und Cizîr (Cizre) berichtet. Sie wurde aus erster Hand Zeugin der beispiellosen Gewalt, die durch die Ausgangssperren und Militärbelagerung ausgelöst wurde.
Da die Aktivitäten der JINHA zusammen mit anderen unabhängigen und kritischen Medien verboten wurden, beschloss Doğan, ein Bild des von ihr beobachteten und empfundenen Leids zu schaffen. Ihre Malerei beruht auf einem Foto, das türkische Flaggen auf zerstörten Gebäuden in Nisêbîn zeigt; die anwesenden türkischen Militärfahrzeuge sind darauf als Skorpione dargestellt. Wegen diesem Bild wurde Doğan im Juli 2016 festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Die Anklage lautete „Mitgliedschaft“ und „Propaganda für eine terroristische Organisation“. Fünf Monate später wurde Zehra Doğan vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation freigesprochen, aber ein Berufungsgericht bestätigte im Juni 2017 das erstinstanzliche Urteil über zwei Jahre, neun Monaten und 22 Tage Gefängnis wegen ihrer Aktivitäten in sozialen Medien und der „Terrorpropaganda“. Sie kam erneut ins Gefängnis, zunächst in Amed (Diyarbakir), später wurde sie mit zwanzig weiteren Frauen gegen ihren Willen nach Tarsus verlegt. Im Februar 2019 wurde sie entlassen. Weltweit bekannt wurde Zehra Doğan durch ein riesiges Wandbild, mit dem der britische Street-Art-Künstler Banksy in New York gegen ihre Inhaftierung protestierte. Das etwa 20 Meter breite Kunstwerk zeigte stellvertretend für die Tage ihrer Haftstrafe eine Strichliste, die an einer Stelle zugleich ein Gefängnisgitter darstellt.
Mit der Arbeit der im Rahmen der elften Ausgabe der Berlin Biennale gezeigten Graphic Novel in Kurmancî begann Doğan im Gefängnis. Laut der Kuratorin Övül Ö. Durmusoglu machte sie dies „in einem Stil, der an die Erzählformen des Dengbêj erinnert, eine alte kurdische Tradition mündlichen Erzählens, die dazu dient, Geschichte über die Generationen hinweg zu vermitteln und die meist ungeschriebene Sprache lebendig zu halten. Als Akt des Gedenkens gibt die Graphic Novel die Zeugenaussagen wieder, die sie ins Gefängnis brachten, sowie ihre Gespräche mit anderen politischen Häftlingen; all dies findet vor dem historischen Hintergrund des kurdischen Kampfes in der Türkei statt, der in den 1980er Jahren begann – in Gefängnissen, in denen viele kurdische Intellektuelle und Aktivist*innen brutal gefoltert wurden. Doğans Graphic Novel ist eine Botschaft an die Tausenden, die sich als gewählte Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen für den Frieden und die Lösung des Kurd*innenkonflikts eingesetzt haben und derzeit in türkischen Staatsgefängnissen inhaftiert sind.“
11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, läuft bis zum 1. November. Die vier Ausstellungsorte: Institut Kunst Werke, Auguststr. 69, daad-Galerie, Oranienstraße 161, Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, ExRotaprint-Projektraum, Wedding, Gottschedstr. 4. Die Werke von Zehra Doğan werden im Institut Kunst Werke, auch KW Institute for Contemporary Art, gezeigt.