Kiel: „Wenn du könntest, würde ich dich um ein Heimatland bitten“

Entlang des kurdischen Befreiungsmythos von Newroz öffnete sich bei den kurdischen Kulturtagen in Kiel im Rahmen einer musikalischen Lesung ein poetischer Blick auf die teils uralte und teils sehr junge, gefährdete Heimat von Kurd:innen.

Am Montagabend fand vor einem großen Publikum eine musikalische Lesung als Teil der noch bis Dezember andauernden Kurdischen Kulturwochen im Kieler Schauspielhaus statt. In den leidenschaftlichen Gedichten der 1978 im nordkurdischen Amed (tr. Diyarbakır) geborenen und in Berlin lebenden Dichterin und Dramatikerin Yildiz Çakar und in den leichtfüßigen Geschichten mit politischer Wucht des in der Türkei inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş erzählten sich Schmerz, Sehnsucht, widerständiger Kampfgeist und das Ringen um ihr Land, ihre Heimat, ihre Identität. Gemeinsam mit den Sänger:innen und Musiker:innen Xezal und Botan luden die Schauspielerin Ellen Dorn und der Rezitator Mamoste Amedi zu einer musikalisch-literarischen Reise in deutscher und kurdischer Sprache ein.

Eingeleitet wurde die Veranstaltung mit der Erzählung vom Tyrannen Dehak, der, um den Hunger zweier mit ihm verwachsener Schlangen zu stillen, Gehirne von Kindern benötigte. Also ließ der Despot jeden Tag zwei Kinder töten, um sie an seine Schlangen zu verfüttern. Er terrorisierte damit die Menschen seines Reiches, sodass große Teile der Bevölkerung aus Angst in die Berge flohen. Dort gelang es dem einfachen Schmied Kawa, die Menschen zum Widerstand gegen Dehak zu bewegen. Der junge Schmied fertigte Waffen für sich und seine Mitstreiter an. Sie rebellierten gemeinsam und schließlich gelang es Kawa, dem Tyrannen und seinen Schlangen mit seinem Schmiedehammer den Garaus zu machen. Auf dem Dach des Tyrannenpalastes entzündete er ein Feuer. Dieses Feuer sollte das Ende der Tyrannei und den Beginn eines neuen Tages verkünden: Newroz. Für die Menschen bedeutete das Feuer eine neue Zeit des Friedens und der Freiheit.

Während diese Erzählung den Rahmen der Veranstaltung bildete, wurde zwischenzeitlich auf die Geschichte Kurdistans, die heutigen Lebensbedingungen und die vom türkischen Militär andauernden Terrorisierung der Zivilgesellschaft verwiesen. Anschließend trug Ellen Dorn zwei Abschnitte aus den Büchern „Morgengrauen“ und „Kaltfront“ von Selahattin Demirtaş vor. Demirtaş ist ehemaliger Ko-Vorsitzender der HDP. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 trat er als einer von drei Kandidaten gegen Erdoğan an. Im November 2016 wurde er verhaftet, seitdem sitzt er in Edirne in einem Typ-F-Gefängnis in Haft. Gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2020 ist Demirtaş aus politischen Gründen inhaftiert und daher sofort freizulassen. Die Türkei hat das Urteil bisher aber noch nicht umgesetzt und hält Demirtaş weiter unrechtmäßig gefangen.

Im weiteren Verlauf der Lesung, die von musikalischen Einlagen der Sängerin Xezal und des Musikers Botan begleitet wurde, trugen Ellen Dorn und Mamoste Amedi das Gedicht „Ger ji destê te bihata“ – „Wenn du könntest“ von Yildiz Çakar vor, das die Sehnsucht nach einem Heimatland thematisiert. Yildiz Çakar arbeitete als Korrespondentin und Redakteurin für kurdische und türkische Zeitungen. Ihre Gedichte, die sie zwischen 1999 und 2003 in der Zeitung Azadiya Welat und dem Magazin Jiyana Rewşen veröffentlichte, erschienen 2004. Motive in Çakars Texten sind der Tod, Exilerfahrungen und die Sehnsucht nach einer Heimat. So heißt es im vorgetragenen Gedicht:

„Ich brauche ein Land, ohne Grenzen, ohne Grenzen, ein bisschen Erde, ein paar Tulpen

Rot, Gelb, Grün im Weiß der Augen

Warum verspotteten deine Worte die Berge! Ich mache mir Sorgen darüber, warum nachts Ruhe herrscht

Warum fiel die Nacht über mich herab, die Sehnsucht, warum kamen die Worte?“

Im Anschluss an die Veranstaltung waren die Anwesenden eingeladen, das vom Frauenverein „Jiyana Jin“ bereitete Buffet zu besuchen. Musik, Tänze und Austausch beschlossen den gelungenen Abend.