Am 16. Oktober 2023 jährte sich der Tod von Konstantin Gedig (Andok Cotkar) zum vierten Mal. Der Kieler Internationalist wurde im Jahr 2019 im Alter von 24 Jahren bei der Verteidigung von Serêkaniyê in Nordsyrien in den Reihen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) durch einen türkischen Luftangriff ermordet. Am Samstag fand eine Gedenkveranstaltung in Kiel statt, in diesem Jahr erstmalig in den Räumlichkeiten der Alevitischen Gemeinde.
Bereits vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung zeichnete sich ab, dass der Platz im liebevoll mit Porträts von Konstantin und Fahnen der kurdischen Befreiungsbewegung geschmückten Raum, wie schon bei den vergangenen Gedenkveranstaltungen, knapp werden würde. Zahlreiche Teilnehmer:innen, die keinen Sitzplatz mehr ergattern konnten, verfolgten die Begrüßung durch zwei Vertreter:innen des Bündnisses Defend Kurdistan Kiel schließlich im Stehen. Insgesamt wohnten dem diesjährigen Gedenken etwa 140 Weggefährt:innen, Freund:innen und Genoss:innen von Konstantin bei, die teils aus dem ganzen Bundesgebiet angereist waren.
„Konstantin ist eine Ausnahmeerscheinung“
Zum Auftakt erhoben sich die Anwesenden zu einer Schweigeminute für Andok Cotkar sowie alle gefallenen Kämpfer:innen für ein freies Kurdistans und seine Revolutionär:innen. Sie wurde auf Wunsch von Konstantins Eltern ausdrücklich auch dem am 15. Juni 2023 in Xakurke gefallenen internationalistischen Guerillakämpfer Thomas (Azad Şergeş) aus Bayern gewidmet.
Es folgten verschiedene Grußworte. Cetin Kocak vom Vorstand der Alevitischen Gemeinde Kiel e.V. betonte, dass es ihnen eine Ehre sei, die Gedenkveranstaltung für Andok Cotkar in ihren Räumlichkeiten ausrichten zu dürfen. Sein charakterlich fest verankerter konsequenter Humanismus sei vorbildhaft: „Konstantin hat sich auf den Weg gemacht, um die Menschen zu schützen. Er ist eine Ausnahmeerscheinung.“ In einem Beitrag der Malbata Şehîdan (Vereinigung der Familien der Gefallenen) wurde der Familie von Konstantin Hochachtung ausgesprochen und für ihre politische Solidarität gedankt: „Mit großer Achtung und Respekt grüßen wir heute die Familie von Andok. Wir danken Ihnen aus dem tiefsten Inneren für Ihre Anwesenheit und teilen Ihren Schmerz. Ihre Tapferkeit und Ihr Durchhaltevermögen sind eine Inspiration für uns alle.“
Anschließend wurde ein Brief von Kämpfer:innen der YBŞ International (Widerstandseinheiten Şengals) an die Familie Konstantins verlesen. Andok hatte sich ihnen im Jahre 2019 angeschlossen, um die Rückkehr der vom „IS“ vertriebenen Ezid:innen nach Şengal zu schützen. „Es werden immer noch regelmäßig Geschichten über ihn erzählt, die uns zum Lachen, aber auch zum Weinen bringen. Sein Kampfgeist ist immer noch in der internationalen Einheit der YBŞ zu spüren, denn er wird als Vorbild und Inspiration für alle Internationalist:innen genommen.“
Nachfolgend wurde eine Videobotschaft von Mazlum Abdi, dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gezeigt. Abdi betonte das Ansehen und die Ehrung, die internationalistischen Freiwilligen in Nord- und Ostsyrien widerfährt, die ihr Leben für den Aufbau und die Verteidigung der befreiten Gesellschaft gegeben haben: „Ihr Einsatz, der Kampf, den sie führten, und ihr Tod als Gefallene der Revolution haben eine besondere Bedeutung, eine große Bedeutung für unsere Bevölkerung. Sie kamen hierher, ohne einen eigenen Vorteil zu haben, nur um die Werte der Menschheit, die Werte dieser Bevölkerung zu verteidigen.“
Der erste Block des Gedenkprogramms endete mit der Darbietung des Liedes „Zana û Andok“, das Konstantin in seiner Zeit als Andok Cotkar ein steter musikalischer Wegbegleiter gewesen ist und gern auch selbst von ihm gesungen wurde.
Konstantins Eltern Ute Ruß und Thomas Gedig
In Rojava mit Konstantin
Im Hauptteil der Veranstaltung nahmen Ute Ruß und Thomas Gedig, die Eltern von Konstantin, die Teilnehmer:innen der Gedenkveranstaltung mit auf die Reise auf den Spuren ihres Sohnes in Kurdistan und Syrien. Beide reisten im März dieses Jahres nach Rojava, um diejenigen Menschen und Orte kennenzulernen, die Konstantin seit seiner Ankunft im Jahre 2016 als seine neue Heimat angenommen hatte. Dreieinhalb Jahre nach seinem Tod waren sie bereit für diesen Schritt und skizzierten die Wochen als aufregendste und kräftezehrendste, aber auch Kraft spendende Zeit.
Die fast 2500 Kilometer lange Spurensuche führte Ute und Thomas nach ihrer Ankunft in Silêmanî in Südkurdistan über den Grenzübergang von Sêmalka nach Rojava. Hier besuchten sie zunächst die Trümmer der internationalistischen Akademie, an der Konstantin politisch und militärisch ausgebildet wurde. Diese wurde bereits 2017 durch einen türkischen Bombenangriff zerstört.
Bei ihrem herzlichen Empfang in Dêrik überreichen sie Spenden von der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg - Dêrik e.V. und besuchen den Gefallenenfriedhof. Was der bedrückende Kriegsalltag konkret bedeutet, symbolisieren ihnen die überlebenswichtigen Drohnenschutzanlagen, die einen Sichtschutz vor den heimtückischen Mordangriffen gewähren – auch in Straßen, die Konstantin vor einigen Jahren passierte. Bei einem Besuch des Nomadenstamms der Koçerat realisiert Ute in ungekannter Klarheit, wie „unheimlich richtig“ die Entscheidung ihres Sohnes gewesen ist, die Bevölkerung von Rojava unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen: „Indem Konstantin sich entschieden hat, dort hinzugehen, versuchte er, den dort lebenden Menschen ihre Identität und ihr Leben wiederzugeben.“
Besuch in Qamişlo und Kobanê
Die nächste Station ihrer Reise bringt Ute und Thomas nach Qamişlo, wo sie das Krankenhaus von Heyva Sor A Kurd (Kurdischer Roter Halbmond) besuchen. In der Autonomieregion gibt es ca. 6000 Kriegsversehrte, die unter anderem auch mit Prothesen versorgt werden müssen. Am Denkmal für die internationalen Gefallenen ist auch ihr Sohn verewigt. Im Hauptquartier der YPG treffen sie Kämpfer, die Konstantins Weg gekreuzt haben. Der damalige Kommandant von Serêkaniyê schildert eine Begegnung mit Konstantin kurz vor seinem Tod, bei der er und seine Einheit um Anweisungen baten. Auf die scherzhafte Frage des Kommandanten, die auf seine Erscheinung anspielte, ob Konstantin ein Wikinger sei, lächelte dieser und spielte kurz den grimmigen Wikinger. Auch diese Anekdote versinnbildlicht seinen Charakter: Er war fokussiert und entschlossen, hat aber immer auch für gute Laune gesorgt.
In Kobanê besuchen sie die zerschossene Altstadt, deren Ruinen als Museum und Denkmal für den siegreichen Verteidigungskampf gegen den IS von 2014 erhalten bleiben. Die tiefe Bedeutung der kurdischen Parole „Widerstand ist Leben“ offenbart sich Andoks Eltern nirgendwo deutlicher als dort: einige Familien leben weiterhin in ihren zerstörten Häuser. Sie weigern sich, sich durch den Krieg vertreiben zu lassen. Sie zeigen damit: das ist ihre Stadt, ihr Land! Generell beeindruckt die Eltern die Aufbauleistung, die die Bewohner:innen Kobanês trotz der andauernden Bedrohung durch das angrenzende türkische Militär nach dem Sieg über den IS erbracht haben. Es ist ein Tag vor Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest, als sie den Gefallenenfriedhof von Kobanê besuchen, um mit den Toten vorzufeiern. Da hier jedes einzelne Grablicht angezündet worden war, kommt Ute nicht dazu, ihnen auf diese Weise die Ehre zu erweisen. Für sie ist die Geste der Menschen, auch für die Gräber zu sorgen, zu denen die Angehörigen nicht kommen können, zutiefst tröstlich. Hier soll auch Konstantin seine letzte Ruhe finden, sollten seine Überreste jemals geborgen werden, denn „er gehört zu seinen Hevals“. Bei der zentralen Newroz-Feier auf dem symbolträchtigen Miştenûr am nächsten Tag, an der etwa 20.000 Menschen teilnehmen, sind Ute und Thomas als Ehrengäste geladen. Ungefragt und unvorbereitet wird Ute selbstverständlich eine Rede halten und darf anschließend im Herzen des Widerstands von Rojava das Newroz-Feuer entzünden.
Am Tabqa-Stausee des Euphrat werden sie Zeug:innen des Wasserkriegs, den der türkische Staat gezielt gegen die demokratische Selbstverwaltung führt. Durch die Blockade des Wasserzuflusses ist die Versorgung mit Trinkwasser und Strom nicht mehr gesichert. Der Stausee droht auszutrocknen.
Widerstandslieder für Konstantin
Konstantin und der Fußballclub Raqqa
Im Jahr 2017 war Konstantin an der Befreiung der Stadt Raqqa beteiligt. In der Arte-Dokumentation „Freiwillig in der Hölle von Raqqa“ ist sein Wunsch dokumentiert, sich nach dem Sieg über den „IS“ ein Trikot des FC Raqqa besorgen zu wollen. Seine Kampfgefährten kommentieren etwas hämisch, dass Fußballspielen unter der Terrorherrschaft der Dschihadisten verboten sei. Als Ute und Thomas das Stadion von Raqqa besuchen, das unter dem „IS“ als Folterlager missbraucht wurde, können sie jedoch Jugendlichen beim Fußballtraining zusehen. Das macht die Eltern sehr glücklich. Am Tag der internationalen Gefallenen lassen ihnen die Bürgermeister:innen der Stadt ein Trikot des Fußballclubs von Raqqa überreichen. Der Wunsch ihres Sohnes hat sich schlussendlich erfüllt. Am einstigen Stützpunkt der Internationalist:innen blickt Ute auf den Garten, den Konstantin auch gesehen hat.
In Hesekê treffen sie Mazlum Abdi und Newroz Ehmed, Oberkommandierende der QSD und YPJ, und weitere Führungsfiguren der Revolution. Für die Eltern Konstantins wird die Situation in Serêkaniyê während seines tödlichen Einsatzes rekonstruiert. Als Abschiedsgeschenk wird ihnen die Şahmaran überreicht, die in jeden kurdischen Haushalt gehöre. Ute und Thomas fahren weiter nach Til Temir, wo sie das kleine Krankenhaus besuchen. Das Wetter ist bewölkt und bietet somit etwas mehr Sicherheit, weil Drohnen unter diesen Bedingungen eher nicht fliegen. Sie befinden sich nur zehn Kilometer von dem Todesort ihres Sohnes entfernt. Aufsuchen können sie die Stadt nicht, sie wird von Dschihadisten kontrolliert.
Die Reise endet wieder in Dêrik. Mitglieder der internationalistischen Kommune überreichen ihnen unverhofft den Helm von Andok Cotkar, der ihm einmal das Leben gerettet hat. Neben den Spuren einer abgewehrten Kugel waren dort Namen gefallener Weggefährten von Andok eingeritzt worden. Ute und Thomas können das Geschenk nicht annehmen. Sie schenken ihn dem zukünftigen Gefallenen-Museum von Kobanê. Falls die Angehörigen von Andoks Freunden diese Namen auf dem Helm lesen, sollen sie getröstet werden: ihre Söhne wurden von ihm geliebt.
Ute: Bleibt an der Seite der Menschen in Rojava, in Kurdistan
Zum Abschluss ihres emotionalen Reiseberichts resümierte Ute Ruß, untermalt von einem Lied von Ciwan Haco, das sich sinngemäß mit „Glockengeläut“ übersetzen lässt und sie auf ihrem Weg durch Nord- und Ostsyrien begleitet hat: „Ihr lasst uns nicht allein! Unsere Regierung und unsere gewählten Vertreter:innen tun genau dies. Damit holt unsere Familie eine Erfahrung ein, die die Menschen in Nord- und Ostsyrien schon längst machen mussten. Sie sagten uns: Auf Regierungen und Nationalstaaten können wir nicht zählen. Der gelebten Solidarität der Gesellschaften kommt daher eine besondere Bedeutung zu, denn sie kommt von Herzen. Danke, dass ihr uns mit eurer Solidarität nicht allein lasst! Eure Anteilnahme trägt uns durch diese Zeit. Es ist eine großartige Erfahrung für uns und Konstantin hätte es zu schätzen gewusst. Bleibt auf der richtigen Seite der Geschichte, bleibt an der Seite der Menschen in Rojava, in Kurdistan. Das ist sehr wertvoll für sie.“
Ihre Rede beendete sie mit den Versen der Lyrikerin Rose Ausländer, jüdische Überlebende der Schoah, und widmete sie ihrem Sohn Andok Cotkar und Azad Şergeş:
„Wenn der Krieg beendet ist
am Ende der Zeit
geh‘n wir wieder spazieren
in der Muschelallee
einverstanden
mit Mensch und Mensch
Es wird schön sein
wenn es sein wird
am Ende der Zeit“
Das FC Raqqa-Trikot
„Er ist nicht hergekommen, um zu töten, sondern um für das Leben zu kämpfen.“
Nach einer Pause, während der die kurdische Frauengruppe Jiyana Jin ein reichhaltiges Buffet auftischte, folgte eine Live-Schalte nach Rojava. Zwei Internationalist:innen schilderten die heftigen Angriffe des türkischen Militärs vor allem auf zivile Infrastruktur und die Bevölkerung in den letzten Wochen, die in der medialen Berichterstattung kaum beachtet werden. Nichtsdestotrotz sei der Widerstandsgeist der Bevölkerung ungebrochen, es habe keinerlei Fluchtbewegungen gegeben. Eine Weggefährtin Konstantins sprach von dessen großer Empathie, seinem Gerechtigkeitssinn, seiner Naturverbundenheit und seiner gelebten Konsequenz. In ihren Erinnerungen blieb Konstantin als verlässlicher, ehrlicher und witziger Naturbursche haften. Seine Standhaftigkeit habe er den humanistischen Werten zu verdanken, mit denen er von seinen Eltern ausgestattet wurde. Eine Gedenkveranstaltung für Konstantin sei daher auch immer ein Gedenken für das Leben und für den revolutionären Aufbau einer lebenswerten Zukunft.
Nach der Live-Darbietung des Liedes „Marşa Rojava“ sprach der internationalistische Aktivist Kerem Schamberger zu den Errungenschaften der Rojava-Revolution. Er betonte ihren Humanismus, den auch Konstantin auszeichnete. Er sei das Insistieren darauf, Mensch zu sein und Mensch zu bleiben – auch in dunklen Zeiten. „Konstantin hat als Internationalist den Beweis verteidigt, dass die Emanzipation des Menschen und der Gesellschaft möglich ist.“
Es folgte die Vorführung des Trailers zum Dokumentarfilm, der über die Reise von Ute Ruß und Thomas Gedig produziert wurde, bevor ein kämpferisches Medley der Widerstandslieder „Oy Kurdistan“, Serhildan jiyane“, „Lo dilo“ und „Lêxin Birano“ vorgetragen wurde. Mamoste Amedî, der während Konstantins zwischenzeitlicher Rückkehr nach Kiel im Jahre 2018 sein Kurdisch-Lehrer und enger Vertrauter gewesen ist, trug danach ein sehr persönliches und schmerzerfülltes Gedicht an Heval Andok aus eigener Feder vor.
Mit der Ehrung der Familie Konstantins und dem gemeinsamen Singen des Partisanenlieds „Bella Ciao“ endete nach dreieinhalb Stunden eine würdige, gefühlvolle, inhaltsschwere und kämpferische Gedenkveranstaltung für Şehîd Andok Cotkar, dem ganz normalen Landwirt aus Kiel, der zum Helden wurde.