Der Kampf gegen die türkische Invasion in Serêkaniyê, die am 9. Oktober 2019 begann, wird nicht umsonst als „Widerstand der Würde“ bezeichnet. Jeden Tag wurden Hunderte Beispiele von Mut und Initiative gegen die Übermacht von Dschihadisten und türkischen Soldaten gezeigt.
Eine dieser Geschichten von Mut und Widerstand hat die Gruppe von Mîtan Qamişlo, Doğan Mele Gazi, Rizgar Arap, Cano Sabrî, Nêçîrvan Êzidî, Andok Cotkar, Riyad Qamişlo, Hacı Qamişlo, Demhat Ekla, Baran Rizo, Tekoşer, Herekol Qamişlo, Êvan Qamişlo, Can Arap und weiterer Kämpfer:innen, deren Name nicht bekannt ist, geschrieben. Sie kamen aus Şengal, Qamişlo, Deir ez-Zor, Deutschland und Schweden, vereint im Ziel und in der Überzeugung wuchsen sie in kürzester Zeit zusammen. Die Gruppe nannte sich scherzhaft „Die Deserteure“, da viele von ihnen aus ihren Einheiten oder dem Krankenhaus weggegangen waren, um an der Front in Serêkaniyê zu kämpfen. Im ANF-Gespräch berichten zwei Überlebende der Gruppe, Mîtan Qamişlo und Herekol Qamişlo, über die Geschichte dieser Einheit.
Mîtan Qamişlo
Mîtan Qamişlo berichtet über die Anfänge der Gruppe: „Ich war auf einer Fortbildung, als die Angriffe auf Serêkaniyê begannen. Die militärische Ausbildung war fast vorbei. Ich sagte, dass ich zu meiner Einheit gehen wolle. Sie sagten mir, dass es dort ohnehin bereits Freund:innen gäbe. Ich habe nur einen Tag durchgehalten. Am nächsten Tag machte ich mich fertig und ging nach Qamişlo. Unterwegs rief ich meine Freunde an. Sie waren Kämpfer, die ich aus früheren Offensiven kannte. Ich sprach mit vielen von ihnen und sagte, lasst uns nach Serêkaniyê gehen.
Die Gruppe sammelt sich
Ich traf Heval Cano. Er war aus einer militärischen Einheit aus Dêrik gekommen und wollte ebenfalls nach Serêkaniyê. Dann trafen wir Canos Brüder, Can und Riyad. Alle drei waren bei den YPG. Andere Freunde, die hörten, dass wir zusammen nach Serêkaniyê gehen wollen, kamen auch. Ein Freund hieß Demhat, er war auch dabei. Wir trafen uns im Haus von Heval Can.
Zwei der Kämpfer kamen aus Şengal. Ein Freund rief an und sagte: ‚Es gibt zwei Freunde, die nach Serêkaniyê fahren.‘ Wir trafen sie und fragten, was sie wollten. Sie antworteten: ‚Wir sind auch ‚desertiert‘. Lasst uns zusammen gehen.‘
Heval Doğan war auch dabei. Er wurde in der Offensive von Minbic verletzt und hatte ein Auge verloren. Als er hörte, dass wir gehen, kam er trotz Verletzung mit. Ein weiterer Freund war Heval Baran. Er war ebenfalls bei militärischen Aufgaben verletzt worden. Aber er kam dennoch.
Es gab einen Freund aus Schweden mit dem Namen Nêçîrvan Êzidî. Er war mit einer Gruppe Internationalisten nach Rojava gekommen und hatte an den Offensiven teilgenommen. Er rief an und sagte: ‚Wenn ihr nach Serêkaniyê geht, dann wartet auf mich.‘
Ich kannte Heval Andok Cotkar [Konstantin Gedig]. Er gehörte zum medizinischen Personal und kam aus Deutschland. Beide internationalistischen Freunde schlossen sich uns an.
Botan, Rizgar und Herekol waren aus militärischen Einheiten gekommen und Êvan und Cano kamen zusammen. Êvan war Canos Onkel.
Die Gruppe bricht auf
So hat sich unsere Gruppe gesammelt. Alle hatten das gleiche Ziel. Die Freunde nannten die Gruppe scherzhaft die ‚Einheit von Deserteuren‘. Diese Gruppe sollte als ‚Fedayin von Qamişlo‘ nach Serêkaniyê gehen. Drei Tage lang trafen wir unsere Vorbereitungen in Qamişlo. Dann fuhren wir nach Hesekê und informierten die Freunde, dass wir nach Serêkaniyê gehen wollten. Als sie uns fragten, woher wir kämen, haben wir gesagt, wir seien aus unseren Einheiten gekommen. Einige weitere schlossen sich uns an. Da wir viele waren, beschlossen wir, in zwei Gruppen zu gehen. Wir hielten uns von der Bevölkerung fern, damit diese nicht zum Angriffsziel des türkischen Staates werden würde.
Die andere Gruppe wurde auf dem Weg nach Serêkaniyê angegriffen, aber sie kam totzdem heil an. Zu diesem Zeitpunkt riefen uns viele Freunde an und sagten: ‚Warum habt ihr nicht gewartet, wir wären auch gekommen.‘ Alle Freunde, die das hörten, kamen nach Hesekê. Serêkaniyê wurde bereits belagert.
Wir gingen nach Serêkaniyê zu den Freund:innen an die Front. Wir hatten uns aufgeteilt, wer welche Waffen benutzen könnte. Die Gruppe, die nach uns kam, teilte sich ebenfalls auf und bezog Stellung. Über uns kreisten viele Kampf- und Aufklärungsflugzeuge.
Als wir das Haus von Heval Riyad verließen, schickte seine Mutter alle ihre drei Kinder mit uns. Wir schickten einen zurück. Ich war sehr bewegt, als ihre Mutter ihnen sagte: ‚Behaltet eure Freunde im Auge.‘
Der Feind konnte nicht am Boden vorrücken. Er griff vor allem aus der Luft an. Dabei benutzte er alle Arten von Waffen wie Flugzeuge, Aufklärer aber auch Haubitzen. Die Söldner hatten nicht die Kraft für einen Vormarsch. Sie hatten sich verkauft und waren für Geld da. Sie konnten nicht gegen die Menschen bestehen, die für ihr Volk an die Front gingen. Doch es wurden vor allem Flugzeuge eingesetzt.
„Andok Cotkar war opferbereit“
Andok Cotkar hatte im medizinischen Bereich gearbeitet. Er sagte: ‚Was auch immer kommen mag, ich will mit euch gehen.‘ Er nahm ein BKC-Maschinengewehr und erklärte: ‚Ich werde kämpfen.‘
Rizgar sagte ihm, er solle seinen Platz einnehmen. Die Freund:innen führten Operationen durch, so dass der Feind sich zurückziehen musste. Sie befreiten drei Viertel und warfen den Feind zurück. Es gab Tote und Verletzte. Dann kamen die Panzer. Die Freunde zerstörten einen Panzer mit Raketenwerfern. Rizgar sagte: ‚Geh in Deckung.‘ Andok war Deutscher, Rizgar war Araber. Deswegen verstanden sie sich nicht richtig. Andok ging auf die Straße. Der Panzer war zerstört und der Feind musste sich zurückziehen. In dieser Begeisterung sprang Andok auf die Straße und schoss dem Feind hinterher. Dann kamen Flugzeuge und griffen an. Andok ist dort gefallen.
Der Feind konnte mit Bodentruppen nicht kämpfen. Es kamen weitere Einheiten von uns zur Verstärkung an die Front. Zwei Freundinnen gingen mit Rizgar los, um Heval Andok zu bergen. Auch sie wurden von Flugzeugen getroffen und sind gefallen. Die Luftwaffe war dort extrem in Bewegung, denn es war ein Panzer zerstört und der Feind aus drei Stadtvierteln zurückgedrängt worden. Alle drei Freund:innen sind durch die massive Bombardierung gefallen.
Ich hatte Şehîd Andok in Qamişlo kennengelernt. Er war in jeder Hinsicht ein sehr wertvoller und respektierter Freund. Was auch immer ich über ihn erzählen würde, es wäre zu wenig. Wir lernten uns in diesem Krieg kennen. Er machte seine Arbeit mit großer Freude und Leidenschaft. Als er seine Waffe nahm und kämpfte, strahlte er Überzeugung aus. Wenn ich ihm in die Augen sah, dann konnte ich seine Bereitschaft sehen, sein Leben für dieses Volk, für die demokratische Nation, zu opfern. Und das tat er … Er stand zu seinem Wort.
Şehîd Rizgar ist für seinen Weggefährten gefallen
Şehîd Rizgar war ein arabischer Freund. Er kämpfte seit Beginn der Revolution und hatte an vielen Gefechten und Offensiven teilgenommen. Wenn man sieht, wie Flugzeuge oder Haubitzen ein Ziel treffen, dann ist klar, dass man da nicht mehr so einfach rauskommt. Aber Şehîd Rizgar ging für seinen Freund dorthin. Das ist es, was im Krieg und unter Bombenhagel zu Tage kommt, ein Geist tiefer Genossenschaftlichkeit. Er und Şehîd Andok kannten sich erst ein paar Tage. Aber dieser Geist brachte sie zusammen.
Was auch immer wir über diese Gruppe, über diese Gefallenen sagen würden, wäre zu wenig. Sie waren opferbereite und revolutionäre Menschen.“
Herekol Qamişlo
Herekol Qamişlo, ebenfalls Teil der Gruppe der „Deserteure“, berichtet über seine Erlebnisse und seinen Verwandten Şehîd Rızgar: „Ich kämpfe seit 2013 in der Revolution und habe an vielen Kämpfen und Offensiven teilgenommen. Ich arbeitete zum Zeitpunkt der Angriffe in der Gegend von Deir ez-Zor und befand mich gerade im Urlaub in Qamişlo. Ich hatte noch zwei Tage Urlaub. Heval Mîtan hatte Şehîd Rizgar angerufen und gesagt: ‚Treffen wir uns in Qamişlo und gehen nach Serêkaniyê.‘ Wir wollten nach Serêkaniyê gehen, um uns, wenn nötig, zu opfern. Ich rief die Kommandantur meiner Einheit an und sagte, dass ich an der Schlacht von Serêkaniyê teilnehmen würde. Aber sie verweigerten das. Trotzdem gingen Şehîd Rizgar und ich mit einem weiteren Freund zu Mîtan ins Viertel Qudirbeq in Qamişlo.
Şehîd Rizgar, Botan und ich kamen aus demselben Dorf. Wir alle hatten bereits zuvor an vielen Offensiven teilgenommen. Es gab dort noch weitere Freunde, mit denen wir zusammen nach Serêkaniyê gingen. Auf dem Weg kam es zu einem kleinen Streit mit Şehîd Rizgar. Er wollte nicht, dass ich nach Serêkaniyê gehe, denn sein Bruder Agit war vor seinen Augen gefallen. Was wäre, wenn ich auch fallen würde …
Die Gruppe wird angegriffen
Uns wurde gesagt: ‚Lasst uns mit zwei Gruppen gehen. Ihr als Gruppe bleibt hier. Wenn etwas in Qamişlo passiert, geht ihr hier an die Front.‘ Das hat mich nicht überzeugt. Mîtan und Rizgar, die das Kommando übernommen hatten, brachen auf. Şehîd Kendal und zwei Freunde, die ich vorher nicht kannte, hielten es nicht aus, also folgten wir ihnen. Wir waren zu fünft. Wir folgten beiden Gruppen als Verstärkung.
In Hesekê wurden wir gestoppt. Die Freunde wollten nicht, dass wir nach Serêkaniyê gehen. Aber wir bestanden darauf und brachen dennoch nach Serêkaniyê auf. Unterwegs wurden wir in der Nähe einer Notfallstelle der Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurd bombardiert. Aber das hat uns nicht abgeschreckt, und wir sind weitergezogen. Wir wollten zu unseren Freunden gehen, egal was passiert.
Als wir Serêkaniyê erreichten, wollte ich nur zu Şehîd Rizgar gehen und an seiner Seite kämpfen. Ich fand heraus, dass Rizgar an vorderster Front stand. Heval Mîtan ließ uns nicht an die Front gehen. Aber wir waren an zwei strategisch wichtigen Straßen stationiert. Wir dachten, wir könnten hier eine Rolle spielen.
Wir sprachen mit Şehîd Rizgar über Funk. Aber der Feind störte immer wieder die Kommunikation. Wir telefonierten ein paar Mal. Dann warnte uns Heval Mîtan, wir sollten unsere Stellungen nicht über Telefon mitteilen. Wir konnten anschließend aus Sicherheitsgründen nicht mehr telefonieren. Das belastete unsere Moral etwas. Aber wir sagten immer noch, dass wir, egal ob wir sterben oder verletzt werden, bis zum Ende kämpfen werden.
Als ich Heval Mîtan traf, habe ich ihn nach Şehîd Rizgar gefragt. Er sagte mir, er sei an der Front. Ich sah einen Freund, der in der gleichen Gruppe wie Şehîd Rizgar war. Er wusste, dass er gefallen war, sagte es mir aber nicht. Er sagte nur, er sei verletzt und habe Widerstand geleistet. Also ging ich aus Rache mit vier Freunden zum Angriff über. Auch ich wurde bei diesem Angriff verwundet.
Rizgar fiel erhobenen Hauptes
Als wir in Richtung Til Temir gingen, erfuhr ich, dass Rizgar gefallen war. Rizgar ist erhobenen Hauptes den Weg der Gefallenen gegangen. Am beeindruckendsten war der Geist der Genossenschaftlichkeit. Ob kurdisch, arabisch oder assyrisch … Wir waren alle zusammen und ohne Unterschiede an derselben Widerstandsfront. Heute setzen wir den Widerstand in Til Temir fort.
Was auch immer geschieht, wir werden nicht zulassen, dass der türkische Staat dieses Land besetzt. Es ist keine Schande, dass der türkische Staat hier einmarschieren konnte, aber es ist eine Schande, wenn er hier überlebt. Wir werden die besetzten Gebiete von der türkischen Besatzung befreien.“