Rojava: Der Frühling lässt sich nicht aufhalten!

„Wir tragen Feuer in unseren Herzen und begehen Newroz in dem Bewusstsein, dass Kultur, Gesellschaft, Politik und Widerstand untrennbar miteinander verbunden sind“ – in elf Städten im Autonomiegebiet ist zeitgleich das neue Jahr begrüßt worden.

Kurdische Neujahrsfeiern zu Newroz gelten immer auch als Akt des Widerstands. Besonders deutlich wurde dies am Dienstag in der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens, wo zeitgleich in elf Städten das neue Kampfjahr begrüßt wurde. Seit 2011 verwalten sich die dort lebenden Menschen in Kommunen selbst, haben den „Islamischen Staat“ zerschlagen, das Assad-Regime abgewehrt, und halten der Türkei stand, deren politische Führung das Projekt Rojava zum Erzfeind stilisiert. Geformt durch die Idee des demokratischen Konföderalismus, eine fundamentale Kritik Abdullah Öcalans am Nationalstaat, steht Rojava für den Aufbau einer gesellschaftlichen Alternative und ist Heimat des vielfältigen Bevölkerungsmosaiks von Syrien. Deswegen feierten Kurd:innen, Araber:innen, Angehörige der Suryoye-Völker, Armenier:innen, Tscherkess:innen und Turkmen:innen Newroz in diesem Jahr unter der Devise: „Mit dem Geist von Newroz werden wir Rêber Apo befreien und die Besatzung besiegen“.

Dirbêsiyê

Gefeiert wurde in Hesekê, Qamişlo, Dêrik, Girkê Legê, Tirbesipiyê, Amudê, Dirbêsiyê, Raqqa, Kobanê und Şehba, aber auch in den selbstverwalteten Vierteln von Aleppo. Allein in Kobanê beteiligten sich tausende Menschen an einer Feier am Rande des Miştenûrs – ein Hügel im Süden der Stadt, der beim Kampf gegen den IS eine strategische Bedeutung hatte. Mihemed Şahin, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Autonomieverwaltung in der Euphrat-Region, würdigte in einer Ansprache den Widerstand von Abdullah Öcalan gegen die „unmenschlichen Bedingungen im Kerker von Imrali“, die Guerilla, die Südkurdistan gegen eine türkische Besatzung verteidigt, und die Völker Irans und Rojhilats für ihre „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution gegen das Mullah-Regime. „Unter der Führung von Rêber Apo und seinem Projekt einer demokratischen Nation ist Newroz Inspiration für alle kämpfenden Völker und auf dem Weg zu einer globalen Kultur des Widerstands.“

Kobanê

Rûken Ehmed von der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) bezeichnete den Widerstand Öcalans als „Inspiration und Schule“ zugleich. Sie sprach über die Bedeutung der Newroz-Feiern für Kurdinnen und Kurden und viele andere Völker des Nahen Ostens – ausgehend vom Widerstandsakt des kurdischen Schmiedes Kawa gegen den persischen Tyrannen Dehak im Jahr 612 v.u.Z. und wies darauf hin, dass auch heute, über 2.600 Jahre später, die freiheitsliebenden Völker wieder ähnlich unterdrückt. „Deshalb rufen wir dazu auf, die Solidarität der Völker zu stärken und den gemeinsamen Widerstand neu aufzurüsten. Newroz sollte der Auftakt einer Ära sein, die Kriege, Massaker und Besatzung nicht kennt.“

Hesekê

Familie von Konstantin/Andok in Kobanê

An der Feier in Kobanê beteiligten sich auch Ute Ruß und Thomas Gedig. Die beiden Kieler sind die Eltern von Konstantin Gedig, den die Menschen in Rojava unter seinem kurdischen Namen Andok Cotkar kennen. Der Internationalist hatte sich 2016 Volksverteidigungseinheiten (YPG) und ihrem Kampf gegen den sogenannten IS angeschlossen. Am 16. Oktober 2019 kam er bei einem Angriffskrieg der Türkei in Serêkaniyê (Ras al-Ain) ums Leben. Er sicherte die Evakuierung einer Klinik, als er durch einen völkerrechtswidrigen Luftangriff des türkischen NATO-Staates getötet wurde. Er wurde nur 24 Jahre alt.

Ute Ruß trug ein kurdisches Kleid | Foto: ANHA

„Ich bin es nicht gewohnt, vor so vielen Leuten zu sprechen“, sagte eine sichtlich gerührte Ute Ruß. „Als Eltern von Şehîd Andok möchten wir euch sagen, dass wir sehr glücklich sind, hier bei euch sein zu dürfen.“ Eine Internationalistin, die Ruß auf der Bühne begleitete, würdigte Konstantin Gedig als Kämpfer für die Menschheit und das Leben gegen den Tod und die Barbarei.

Foza Yûsif: Feuer des Widerstands in unseren Herzen

Eine zahlenmäßig ebenso große Feier fand in Qamişlo statt. Unter den Teilnehmenden war auch die PYD-Politikerin Foza Yûsif. Sie bekräftigte den „Willen der Völker“ Nord- und Ostsyriens nach einem freien Abdullah Öcalan und dem Ende der türkisch-dschihadistischen Besatzung in den Autonomiegebieten. „Er ist Architekt für Freiheit und Frieden und steht hinter der Idee einer gleichberechtigten Koexistenz, die wir hier leben. Er muss seine physische Freiheit erlangen, für die wir kämpfen“, so Yusîf.

Qamişlo

„Wir sind heute zusammengekommen, um gemeinsam Newroz zu begehen. Wir tun dies in dem Bewusstsein, dass Kultur, Gesellschaft, Politik und Widerstand untrennbar miteinander verbunden sind. Das Feuer des Newroz ist in unser aller Herzen. Wir alle tragen eine unauslöschliche Flamme, die unsere Hoffnungen auf ein freies Leben angeregt und unseren Kampf antreibt. Newroz ist nicht nur der Beginn des neuen Jahres und damit des Frühlings, sondern auch ein Tag, unserem Widerstand Ausdruck zu verleihen. Der Versuch der Besatzer, unsere Kulturen, Sprachen und Geschichten auszulöschen, ist der Versuch, den antikolonialen Widerstand von Rojava zu brechen. Doch wir sind entschlossen, unseren Kampf bis zum Sieg weiterzutragen. Die Besatzung wird zerschlagen und Abdullah Öcalan wird befreit werden, denn Frühling lässt sich nicht aufhalten.“

Şehba

Appell an Damaskus

Yusîf betonte, dass die türkische Präsenz in Syrien das größte Hindernis vor einer Lösung der Krise im Land sei und forderte Damaskus auf, sich mit der Autonomieverwaltung an einen Tisch zu setzen. „Die Syrien-Krise kann nur von den Völkern dieses Landes gelöst werden. Das Regime muss mit den Gemeinschaften Syriens in einen politischen Dialog treten, damit ein Lösungs- und Demokratisierungsprozess eingeleitet werden kann. Die Gesprächspartner dürfen nicht in Moskau oder Ankara gesucht werden, sondern hier. Nur so kann die Besatzung in Syrien beendet und ein nachhaltiger Frieden anvisiert werden.“