Hozan Serhat –Künstler, Revolutionär, Guerillakämpfer

Kaum ein anderer Künstler hat die kurdische Guerilla-Musik wohl derart geprägt wie Hozan Serhat. Er war Musiker, Revolutionär und Kämpfer. Seine außergewöhnliche Stimme verzauberte ein ganzes Volk.

Es begann mit einer gerissenen Saite einer Tembûr. Als der siebenjährige Süleyman Alpdoğan mit der Langhalslaute seines Bruders hantierte, gab es einen großen Streit unter den Geschwistern. Arif Alpdoğan erinnert sich: „Es war wohl die erste Tembûr, die es in Patnos gab. Wir hatten ein Jahr lang dafür gespart. Vermutlich deshalb war sie uns heilig. Süleyman stahl sie mir, wann immer er konnte, und versuchte aus ihr schlau zu werden. Wir fetzten uns, was das Zeug hielt. Aber er gab nicht auf. Er war hartnäckig; niemals bereit, auf- oder nachzugeben. Als die Saite riss, entbrannte nicht nur ein Streit zwischen uns, sondern auch seine Leidenschaft für die Musik, die bis zu seinem Tod nicht nachließ.“ Die Rede ist von Hozan Serhat; Künstler, Revolutionär, Guerillakämpfer. Er prägte die kurdische Guerilla-Musik wie kein anderer – und wurde in ihr unsterblich.

Als „Kindersänger“ in Unkapanı

Hozan Serhat wurde am 24. Juli 1970 in Zêtka (tr. Eleşkirt) in der nordkurdischen Provinz Agirî (Ağrı) als jüngstes von fünf Kindern geboren. Im Alter von einem Jahr verlor er seinen Vater. Daraufhin zog die Mutter mit den Kindern zurück nach Patnos. „Er war ein sehr intelligentes Kind. Etwa ein Jahr war vergangen seit unserem Streit wegen der gerissenen Saite und er war inzwischen um ein Vielfaches besser im Tembûr-Spiel als ich. Damit war für mich der Zeitpunkt gekommen, ihn in jeglicher Hinsicht zu unterstützen.“ 1985 versuchte Hozan Serhat in Unkapanı sein Glück. Der europäische Stadtteil Istanbuls war das Zentrum der kommerziellen Musikindustrie der Türkei. Unter dem Pseudonym Murat Esen nahm er dort sein erstes Album „Gûlo“ auf. Es war die Zeit der „Kindersänger“, die Mitte der Achtziger, nur wenige Jahre nach dem Militärputsch, wie Pilze aus dem Boden geschossen kamen. Zusammen mit einem von ihnen, Küçük Emrah, lebte Hozan Serhat eine Weile in einer Wohnung. Doch der Erfolg blieb aus und finanzielle Schwierigkeiten führten ihn zurück nach Patnos. Dort beendete er seine Schulbildung mit dem Abitur. Seine Passion zur Musik trieb ihn noch immer an.

Studium in Izmir

1988 erzielte Hozan Serhat unter 1.800 Mitstreiter:innen das zweitbeste Ergebnis bei der Eignungsprüfung für einen Studienplatz am Staatskonservatorium der Ege-Universität in Izmir. Anders als erwartet studierte er dort aber nicht die Tembûr, sondern die aserbaidschanische Tar. Gleichzeitig lernte er Kaval sowie Gitarre, Saz und Klavier spielen. Und er lernte die kurdische Befreiungsbewegung näher kennen. Sein politisches Bewusstsein wurde zunehmend beeinflusst, und er begann sich mit dem Verständnis für Kunst und Kultur innerhalb des kurdischen Befreiungskampfes zu beschäftigen. Das erste kurdischsprachige Lied, das er in sein Repertoire aufnahm, war „Batmanê Batmanê“.

In den Bergen

Heftanîn, Bekaa, Damaskus

Seinen Wendepunkt erlebte Hozan Serhat nach dem Besuch eines Konzerts an der Atatürk-Universität in Erzîrom (Erzurum). Die Nacht verbrachten er und sein Bruder bei einem Bekannten, es wurde lange geredet über Geschichte, Politik, die Realität des kurdischen Volkes. „Ab dem Moment begann für Serhat der Prozess eines ständigen Hinterfragens“, entsinnt sich Arif Alpdoğan. Bald darauf, es ist Anfang 1991, lernte Hozan Serhat während seiner Studienzeit seine spätere Frau Yıldız kennen. Nur einen Monat später heirateten sie bereits in Denizli. Etwa zur gleichen Phase ließ der türkische Staat den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung eskalieren. Daraufhin fassten beide den Entschluss, sich der PKK anzuschließen. Yıldız Alpdoğan geriet jedoch in Gefangenschaft und wurde in der Folge zu mehr als zwölf Jahren Haft verurteillt. Hozan Serhat hingegen erreichte die Berge und ging in das südkurdische Guerillagebiet Heftanîn. Von dort zog es ihn weiter bis zur Mahsum-Korkmaz-Akademie in der libanesischen Bekaa-Ebene. Die ersten PKK-Kader waren bereits im Spätsommer 1979 in dem Camp unweit der syrischen Grenze eingetroffen. Später ging er zur Parteischule in Damaskus.

Beeindruckender musikalisch revolutionärer Geist

Sein musikalisch revolutionärer Geist hinterließ tiefen Eindruck bei der PKK-Führung. Hozan Serhat wurde gebeten, nach Deutschland zu gehen, um sich in die Aktivitäten des „Verbands der patriotischen Kunstschaffenden in Europa” (Hunerkom) einzubringen. Hunerkom war die erste Organisation mit ausschließlich kurdisch-künstlerischer Zielsetzung und unterstützte Folklore- und Musikgruppen, gab Alben heraus und veranstaltete alljährlich im Frühsommer ein Folklore- und Musikfestival. Verbunden mit dem Verband war vor allem die Musikgruppe Koma Berxwedan („Gruppe des Widerstands“), zu deren Mitgliedern auch Hozan Serhat gehören sollte. Die Band etablierte sich schnell als Hauptinstrument zur Vermittlung der Widerstandsmusik der PKK und wurde zu einem festen Bestandteil der kurdischen Befreiungsbewegung. Am Beispiel von Koma Berxwedan wurde deutlich, dass Musik für den Widerstand eine signifikante Rolle spielt. Seit jeher ist die Musik bei der kurdischen Bewegung ein starkes soziales und politisches Ausdrucksmittel und gleichzeitig eine Möglichkeit, Kultur und Geschichte einer Gesellschaft an die neue Generation zu vermitteln.

Vier Jahre bei Hunerkom in Deutschland

Rund vier Jahre verbrachte Hozan Serhat mit der kurdischen Exilbevölkerung in Europa – und die Kurdinnen und Kurden mit ihm. Es gab kaum eine kulturelle Veranstaltung, bei der er und seine Tembûr fehlten. Seine außergewöhnliche Bühnenpräsenz, die eindrucksvolle als auch samtene Stimme verzauberten alle. Als 1995 der erste kurdische Fernsehsender Med TV auf Sendung ging, flimmerte er regelmäßig über den Bildschirm. Durch die Vertonung von Liedern in allen kurdischen Sprachen erreichte Hozan Serhat die Bevölkerung in allen vier Teilen Kurdistans. Er schrieb eigene Songs und interpretierte traditionelle Volksweisen neu, mit Einwirkung von modernen Motiven. „Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Lieder verloren gehen. Es ist unser aller Aufgabe, sie zu erhalten“, sagte er.

In der Parteischule in Damaskus mit Enver Polat, dem Gründer der Zeitung Özgür Politika

Rückkehr nach Kurdistan

1996 zog es Hozan Serhat zurück nach Kurdistan. „Die Rückkehr in die Heimat ist die Aufgabe eines Revolutionärs. Es liegt an uns, zu unseren Wurzeln zurückzukehren und zu beweisen, dass die kurdische Kultur noch am Leben ist“, erklärte er zu seiner Motivation. Die ersten Monate bewegte er sich in der Zap-Region, später ging er nach Hewlêr und arbeitete im Kulturzentrum Mesopotamien (NÇM). Seine Aktivitäten dehnten sich bis nach Silêmanî und die Behdînan-Region aus. Überall gab er Konzerte, zudem wurde er Teil des Orchesters für schöne Künste.

Massaker von Hewlêr

Als die türkische Armee in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1997 mit etwa 200.000 Soldaten und mehreren tausend „Dorfschützern“ in Südkurdistan zur „Operation Hammer“ („Çekiç Operasyonu“) gegen die PKK einmarschierte, leistete die PDK Unterstützung beim Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung. Die Aktivitäten der Barzanî-Partei beschränkten sich nicht nur auf Gefechte im Rückzugsgebiet der Guerilla, sondern griffen auch auf Städte in Südkurdistan über. So wurden am zweiten Tag der Invasion, dem 16. Mai 1997, in Hewlêr (Erbil) ein Krankenhaus der kurdischen Rothalbmondorganisation Heyva Sor a Kurdistanê, das den Namen „Stiftung für das Leben und den Aufbau Kurdistans“ (ku. Dezgay Jiyan û Awedan, DJAK) trug und Verletzte der PKK versorgte, sowie andere Einrichtungen PKK-naher Organisationen wie beispielsweise das Parteibüro der YNDK (Nationaldemokratische Einheit Kurdistans), der Sitz der YAJK (Verband freier Frauen Kurdistans), Büroräume der Zeitungen Welat (Heimat) und Welatê Roj (Heimat der Sonne) sowie die NÇM-Vertretung von schwerbewaffneten PDK-Milizionären überfallen. Alleine im Krankenhaus ermordete die PDK 62 kriegsverwundete und kranke Guerillakämpfer:innen der PKK. Insgesamt kamen bei dem Massaker von Hewlêr 83 PKK-Mitglieder ums Leben. Unter ihnen waren auch Journalist:innen und Frauenrechtaktivist:innen.

„Hewlêr”

In Botan gefangen genommen und ermordet 

Hozan Serhat war zum Zeitpunkt des Massakers bereits wieder in den Bergen. Aber er hatte viele Freund:innen und Weggefährt:innen verloren. Sein Stück „Hewlêr“ ist den Opfern dieses „brüderlichen Gemetzels” gewidmet. Ab 1998 war er zunehmend an Kämpfen mit dem türkischen Militär beteiligt. Im Oktober desselben Jahres begann Abdullah Öcalans mehrmonatige Odyssee durch verschiedene Länder Europas, die im darauffolgenden Februar in seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei enden sollte. Hozan Serhat nahm kurz danach noch am sechsten Kongress der PKK teil, bevor er mit einer Gruppe Künstler:innen, der auch der Filmemacher und Journalist Halil Uysal angehörte, in die nordkurdische Widerstandshochburg Botan ging. Im Juli geriet die Gruppe in der Provinz Colemêrg (Hakkari) in einen Hinterhalt der türkischen Armee und Hozan Serhat wurde nach einem Gefecht verletzt gefangen genommen. Am 22. Juli 1999 wurde er nahe der Hochebene von Faraşin bei Elkê (Beytüşşebap) von Militärs erschossen und aus einem Hubschrauber geworfen. Seine Gebeine sind bis heute nicht gefunden worden.