Der konservative Justizchef Ebrahim Raissi ist im Juni zum Präsidenten der Islamischen Republik Iran gewählt worden und hat nach acht Jahren Hassan Rohani abgelöst. Raissi war der Wunschkandidat von Ajatollah Ali Chamenei, alle Bewerber anderer politischer Strömungen wurden zuvor vom demokratisch nicht legitimierten Wächterrat ausgeschaltet.
Die Ko-Vorsitzende der PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan / Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê), Zîlan Vejîn, hat sich im ANF-Interview zu dieser Wahlfarce und der Kampfperspektive ihrer Partei geäußert. Ihrer Ansicht nach haben die Menschen in Iran die Voraussetzungen für die Gründung eines demokratischen Systems. Für einen radikalen Wandel müssen die zersplitterten gesellschaftliche Kämpfe zusammengeführt werden.
In Iran haben im Juni Präsidentenwahlen stattgefunden. Wie sind die Wahlen verlaufen und welche langfristigen Auswirkungen wird das Ergebnis haben?
Seit der Gründung der Islamischen Republik Iran haben die Organe der Exekutive, Legislative und Judikative eine theokratische, sexistische, genozidale und konfessionelle Basis. Dementsprechend sind Politik, Gesetzgebung, Justiz, Wirtschaft, Diplomatie und alle weiteren Bereiche organisiert. Das Wahlsystem in Iran ist ein Teil davon. Um die Bevölkerung zum Urnengang zu bewegen, sind lange Zeit vorher Szenarien einer äußeren Bedrohung und ausländischer Feinde in Umlauf gebracht worden. Inzwischen ist klar geworden, dass diese Inszenierung nichts mehr bringt und ein Großteil der Bevölkerung nicht an den Wahlen teilgenommen hat. Die Hälfte der 60 Millionen Wählerinnen und Wähler hat auf die Stimmabgabe verzichtet, die Menschen haben die Wahl boykottiert.
Dass Ebrahim Raissi Präsident wird, war ohnehin bekannt, weil er die Zustimmung vom obersten Führer [Ajatollah Ali Chamenei] hatte. Wer von Chamenei bestätigt wird, gewinnt die Wahlen, das sieht das Leitungssystem in Iran so vor. Raissi ist über Scheinwahlen ins Amt befördert worden. Sowohl die Präsidentschaft als auch das Parlament und die oberste Führung befinden sich jetzt in einer Hand, also in der Hand der Konservativen.
Da die anderen Kandidaten wussten, dass sie nicht gewinnen können, waren sie nicht aussagekräftig und hatten keinen Einfluss. Die Reformer waren untereinander gespalten und das Wahlergebnis stand vorher fest. Von den Arbeitern bis zum Lehrpersonal, den Gewerkschaften, den Frauen, der Jugend bis zu den verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Konfessionen - die Gesellschaft in Iran hat einstimmig deutlich gemacht, dass die Wahlen reine Formalität sind. Die Bevölkerung hat genug von diesem Staat und seiner Politik. Sie weiß, dass ohnehin keine anderen politischen Strömungen zugelassen werden. Darauf hat sie reagiert, indem sie nicht zur Wahl gegangen ist.
Mit dem Amtsantritt von Raissi wird eine weitere Verschlechterung der Situation im Iran erwartet. Die iranische Außen- und Innenpolitik ist bankrott. Gegen Iran laufen über tausend Embargoprojekte. Um dieses Embargo aufzuheben, muss Iran ständig Zugeständnisse machen. Ansonsten wird sich die wirtschaftliche und politische Krise verschärfen.
Was die Präsidentschaft von Raissi in der Innenpolitik ändern oder verursachen wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Seine Vergangenheit ist jedoch finster, insbesondere aufgrund der Zerstörung und Massaker von 1988. Deshalb gibt es keine Erwartungen an ihn. Die Rohani-Regierung hat acht Jahre lang viel versprochen und nichts davon umgesetzt. Das Volk hat keine Erwartungen mehr an seine Präsidenten, denn das eigentliche Problem des Iran ist eine Systemfrage. Das System ist antidemokratische und nationalstaatlich. Um die Wünsche und den Bedarf Gesellschaft heute zu erfüllen, sind radikale Veränderungen notwendig. Die Verfassung muss geändert und ein demokratisches System installiert werden. Das ist der Gesellschaft inzwischen bewusst, und sie weiß, was sie will.
In den letzten Jahren haben in Iran große gesellschaftliche Kämpfe stattgefunden. Diese Kämpfe sind durch den Wahlprotest noch deutlicher geworden. Für den Staat ist weniger der Druck von außen problematisch, sondern vielmehr der Widerstand der Bevölkerung.
Wie sind die Wahlen in Ostkurdistan verlaufen?
Die Kurden sind aufgrund ihrer ethnischen und kulturellen Identität und ihres Glaubens von Ungerechtigkeit und staatlicher Repression betroffen. Das gleiche gilt für die Belutschen und die Araber in Iran. Auch diese Völker haben keine eigenen Rechte. Das Wahlsystem war nie für diese ethnisch-kulturellen Identitäten offen und schließt sie nicht ein. Deshalb glauben sie nicht an Wahlen und haben sie zum Großteil boykottiert. Aufgrund der in Ostkurdistan geführten Politik und auch wegen des ideologischen Denkens des Staates kann niemand seine Aufgaben und Verantwortlichkeiten erfüllen, ohne einen schweren Preis zu zahlen. Weder patriotische Menschen noch Lehrkräfte, Ökologen, Juristen, Frauenrechtlerinnen, Intellektuelle oder Kunstschaffende können ihre Aufgaben gänzlich erfüllen. Die kleinste Bemühung wird als Straftat aufgefasst und geahndet. Wer sich aus Gewissensgründen gesellschaftlich engagiert, wird staatsfeindlicher Aktivitäten beschuldigt. Die Gesellschaft und ihre Individuen sollen kapitulieren und schweigen, andernfalls werden sie getötet und verschwinden.
Das ist die herrschende Atmosphäre in Rojhilat, Belutschistan und Gebieten wie Ehwaz. Das kurdische Volk hat die schmutzigen Pläne der iranischen Besatzung immer durchschaut und trotz fehlender Mittel und Unterdrückung die eigenen Werte, Überzeugungen und die eigene Identität gelebt. Vor allem die kurdischen Frauen mit ihrer festen Haltung spielen dabei eine führende Rolle. Sie sind häufig in offener Form und ohne Angst in den vordersten Reihen der Kämpfe präsent. Die Wahlen sind von unserem Volk in Ostkurdistan boykottiert worden. Diese Botschaft der Bevölkerung in Iran und Rojhilat muss beachtet und richtig verstanden werden. In Kurdistan sind die Wahlen, die Regierung und der Präsident nicht legitim. Der Staat muss begreifen, dass er in der Bevölkerung nicht akzeptiert wird.
Welche Kampfperspektiven hat die PJAK für Iran und Ostkurdistan?
Systeme ändern sich nicht von selbst, sie brechen nicht einfach zusammen. Eine Veränderung kann nur der Kampf der Gesellschaft bewirken. Wenn die Gesellschaft eine Woche lang in ständiger und massiver Form und mit einem gemeinsamen Geist aktiv wird, brechen selbst die stärksten Systeme weltweit zusammen. Die heutige Kämpfe sind viel zu gespalten und bleiben voneinander getrennt. Deshalb erzielen sie auch nicht die gewünschten Resultate.
Vor den Wahlen hat unser Volk auch vor den iranischen Botschaften im Ausland protestiert. Weil die Aktivitäten in Iran, in Ostkurdistan und in Europa und anderen Ländern jedoch nicht aus einer Hand geführt werden, kommt es nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Revolutionen finden weltweit nur mit großen Aufständen und kontinuierlichen Massenaktionen statt. Wenn wir heute eine Revolution und eine Systemveränderung wollen, müssen wir unseren Widerstand entsprechend erweitern und vereint agieren. Sollen alle eine Woche lang die Arbeit niederlegen und auf die Straßen gehen, dann wäre der iranische Staat zu einer Veränderung gezwungen.
Die Frauen sind Vorreiterinnen bei diesem Thema. Sie haben sich auch in der Vergangenheit im Gefängnis und in allen anderen Lebensbereichen sehr aktiv am Kampf beteiligt. Sie haben Repression erlebt und trotzdem nicht geschwiegen. Frauen werden ohnehin nicht als Menschen akzeptiert, deshalb haben sie keinerlei Rechte. Allein das reicht für den Kampf und einen Aufstand von Frauen aus. Im Iran ist jeder Ort ein Kampfschauplatz für Frauen, weil alles sexistisch organisiert ist. Das gibt Frauen sehr gerechtfertigte und starke Gründe. Die Frauen in Iran haben großen Mut. Auch heute können sie mit demselben Mut eine revolutionäre Haltung einnehmen, um ihre Wünsche und Forderungen durchzusetzen. Die anderen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere Jugendliche, Studierende, Werktätige, Bauern, die arbeitende Bevölkerung, müssen die Demokratiefrage als grundlegendes Problem im Leben betrachten und sich radikal gegen das herrschende System wehren.
Die Bevölkerung in Iran hat mit ihrem soziologischen und gedanklichen Entwicklungsstand und Wandel die Kapazität, die Gründung eines sozialistischen und demokratischen Systems anzuführen. Mehr als je zuvor hat die iranische Bevölkerung diese Möglichkeit. Wenn wir mit dem Gedanken an Freiheit, Sozialismus und Demokratie unser eigenes freies System bilden, kann uns eine Befreiungsrevolution gegen die Herrschenden gelingen. Dafür müssen wir als Völker in Iran und vor allem als kurdisches Volk einen gemeinsamen Kampf führen. Mit unserer jahrelangen Kampferfahrung wäre uns dann der Erfolg sicher.