In Nord- und Ostsyrien ist eine kommunale Gerichtsbarkeit aufgebaut worden, die auf Konfliktlösung durch gesellschaftliche Vermittlung in der Basis setzt. Während die Gerechtigkeitskomitees einen wichtigen Teil der juristischen Arbeit übernehmen, stellen die hohe Anzahl an IS-Gefangenen und die fehlende internationale Unterstützung im Umgang mit diesen das Justizsystem von Rojava vor eine ernsthafte Belastungsprobe. Im achten Teil der Artikelreihe von Civaka Azad anlässlich der Rojava-Revolution spricht Rîma Berekat als Ko-Vorsitzende des Justizrates von Nord- und Ostsyrien über das juristische System in der selbstverwalteten Region.
Wir wollen mit unseren Fragen bei der Ebene der Kommune anfangen. In jeder Kommune gibt es ein Gerechtigkeitskomitee. Wie funktioniert dieses Komitee?
Das Gesellschaftssystem in Nord- und Ostsyrien basiert auf der Kommune. Das gilt sowohl für die Nachbarschaften in den Städten als auch für die Dörfer. Die Kommune ist die kleinste Einheit, in der sich die Menschen organisieren. Hier kümmern sie sich um ihre tägliche Belange und Probleme. In den Kommunen werden verschiedene Komitees gebildet, darunter das Gerechtigkeitskomitee, dessen Aufgabe es ist, die gesellschaftlichen Probleme vor Ort zu lösen. Dieses Komitee besteht aus mindestens drei Mitgliedern der jeweiligen Kommune. Die Mitglieder stammen also aus derselben Nachbarschaft oder demselben Dorf. Ihre Aufgabe ist es, einvernehmliche Lösungen bei Problemen oder Streitigkeiten zwischen den Menschen zu finden. Die Mitglieder des Gerechtigkeitskomitees werden von der Kommune selbst gewählt.
Kommt es zu einem Streitfall in der Nachbarschaft, verläuft die Arbeit des Komitees in folgenden Schritten: Der oder die Beschwerdeführer:in legt dem Gerechtigkeitskomitee der Kommune seine oder ihre Beschwerde mündlich oder schriftlich vor und erläutert den Gegenstand der Beschwerde. Handelt es sich um eine zivilrechtliche Streitigkeit, lädt das Komitee die Parteien ein und versucht, den Konflikt auf einvernehmliche Weise durch Dialog und Versöhnung beizulegen. Kommt es zu einer Beilegung des Streits, wird eine Versöhnungsurkunde erstellt, die sowohl von den Konfliktparteien als auch vom Komitee unterschrieben und dem Gerichtshof vorgelegt wird. Kommt die Versöhnung nicht zustande, verfasst das Komitee einen Bericht und sendet ihn an den Gerichtshof. Es gibt die Möglichkeit, die ungelösten Streitfälle an das Gerechtigkeitskomitee der nächst übergeordneten Rätestrukturen zu verweisen. Wird auch dort keine Lösung gefunden, so muss sich der Gerichtshof des Falles annehmen. Auch dieser setzt auf eine einvernehmliche Lösung, doch er kann im Gegensatz zu den Gerechtigkeitskomitees auch ein endgültiges Urteil zum Nachteil einer Konfliktpartei fällen. Ich kann euch aber mitteilen, dass die Gerechtigkeitskomitees den überwiegenden Großteil der Konflikte lösen, ohne dass die Fälle beim Gericht landen. Wir haben im Jahr 2021 in Nord- und Ostsyrien insgesamt 23.312 zivilrechtliche Beschwerden registriert und 17.955 von diesen Fällen konnten durch die Arbeit der Gerechtigkeitskomitees gelöst werden.
Frauen nehmen eine bestimmende Rolle im Gesellschaftssystem von Nord- und Ostsyrien ein. Kannst du uns erklären, wie sich das im Rechtssystem niederschlägt? Und wie werden die Rechte von Frauen juristisch verteidigt?
Wir betrachten die Revolution von Rojava in erster Linie als eine Frauenrevolution. Frauen haben in allen Bereichen dieser Revolution Verantwortung übernommen und große Opfer aufgebracht. Sie spielen in der Organisation der Kommunen und aller gesellschaftlichen Strukturen eine zentrale Rolle. Das gilt auch für die Gerechtigkeitskomitees. Der Kampf der Frauen hat in der gesamten Gesellschaft zu einer Veränderung der Geisteshaltung geführt. Heute wird beispielsweise häusliche Gewalt an Frauen in keinster Weise toleriert. Die Gerechtigkeitskomitees spielen eine wichtige Rolle dabei, der Gewalt an Frauen Einhalt zu gebieten und sie zu schützen. Darüber hinaus schalten sich die Komitees auch bei allen weiteren familiären Streitfällen ein, wenn es beispielsweise um Trennungen, Sorgerecht oder Erbschaftsansprüche geht. Bei diesen Fällen stehen für uns die Rechte der Frauen im Vordergrund, denn viel zu lange wurden Frauen im Sinne des kulturellen und religiösen Gewohnheitsrechts in diesen Fragen diskriminiert und benachteiligt. Heute sind es die Aktivistinnen in den Gerechtigkeitskomitees und in den Frauenhäusern, die ein Auge darauf haben, dass die Rechte von Frauen geschützt werden. Auch bei Fällen von Gewalt an Frauen vor dem Gerichtshof stehen die Frauenstrukturen den Klägerinnen zur Seite und unterstützen sie.
Das Rechtssystem in Nord- und Ostsyrien setzt sehr stark auf einvernehmliche Lösungen bei Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Konfliktparteien. Diese Methode funktioniert vielleicht bei zivilen Rechtsstreitigkeiten. Wie geht ihr aber bei strafrechtlichen Sachverhalten vor? Was passiert beispielsweise bei Raub, Körperverletzung oder Mord?
In diesen Fällen wird direkt vor Gericht verhandelt. Aber auch auf dieser Ebene versuchen wir die Gesellschaft einzubeziehen, insbesondere in solchen Fällen, die von öffentlichem Interesse sind. Hierzu greifen wir auf unterschiedliche Methoden zurück, die zum Teil auch in anderen Ländern Anwendung finden. Es gibt beispielsweise Verfahren, bei denen eine Jury zum Einsatz kommt, die sich aus verschiedenen Segmenten der Gesellschaft zusammensetzt. Dann gibt es Fälle, die medial begleitet werden. Es gibt auch Verfahren, bei denen Vertreter:innen von Menschenrechtsorganisationen in den Prozess eingebunden werden. Uns ist es wichtig, dass auch strafrechtlich relevante Prozesse transparent und möglichst unter Einbindung der Gesellschaft geführt werden.
Wenn wir über das Rechtssystem sprechen, müssen wir auch über die IS-Gefangenen sprechen. Politische Repräsentant:innen in Nord- und Ostsyrien haben immer wieder die internationale Staatengemeinschaft dazu aufgerufen, mehr Verantwortung in dieser Frage zu übernehmen. Wie ist aktuell die Situation in dieser Frage?
Es ist kein Geheimnis, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und die gesamte Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien große Opfer im Kampf gegen den IS erbracht haben. Diese Opfer haben sie nicht nur für den Schutz ihrer eigenen Regionen und ihrer eigenen Bevölkerung, sondern für die gesamte Welt gebracht. Der IS hat im Nahen Osten und den Menschen auf der ganzen Welt großes Leid zugefügt und für Terror, Zerstörung und Vertreibung gesorgt. Das Selbstverwaltungssystem von Nord- und Ostsyrien steht nun vor der Herausforderung, die Hauptlast bei der juristischen Verfolgung und der Inhaftierung der Mitglieder dieser Organisation zu tragen. Wir haben bereits 2014 drei Sondergerichte geschaffen, vor denen Prozesse gegen mutmaßliche Mitglieder des IS und anderer islamistischer Gruppierungen geführt wurden. Heute gibt es nur noch zwei Sondergerichtshöfe, weil das dritte Gericht im Kanton Efrîn lag, der seit 2018 durch die Türkei besetzt ist. Wie gesagt, die Last ist groß und eigentlich für uns alleine hier kaum zu stemmen.
Bei den Prozessen achten sehr genau darauf, dass auch in „Terrorverfahren“ unsere rechtlichen Standards eingehalten werden. Das bedeutet beispielsweise, dass auch ein vermeintliches Mitglied des IS genauso wie jede andere Person in Nord- und Ostsyrien das Recht hat, gegen ein Urteil in Berufung zu gehen. Seit der Gründung der Sondergerichte wurden bereits 8.000 Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der verschiedenen islamistischen Gruppierungen geführt. 6.000 weitere Menschen warten noch auf ihren Prozess. Unter ihnen befinden sich neben syrischen und irakischen Staatsangehörigen auch Personen aus verschiedenen anderen Ländern.
Wir plädieren weiterhin dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft uns dabei unterstützt, diese Last mit uns zu teilen. Wir haben mehrfach vorgeschlagen, eine Form der internationalen Gerichtsbarkeit für mutmaßliche IS-Mitglieder einzurichten. So könnten die Länder, deren Staatsangehörige hier interniert sind, Mitverantwortung übernehmen. Darüber hinaus haben wir mehrfach erklärt, dass wir für die Sicherung der Haftanstalten internationale Unterstützung benötigen. Dasselbe gilt für Angebote zur Rehabilitierung und Wiedereingliederung der Gefangenen. Auf diesen Feldern werden wir bis heute allerdings weitgehend alleine gelassen.
Zum Abschluss möchten wir fragen, wie das neue Rechtssystem von den Menschen in Nord- und Ostsyrien angenommen wird. Und wie ist die Akzeptanz in den mehrheitlich arabischen Gebieten? Viele Menschen haben ja sowohl das diktatorische Rechtssystem des Baath-Regimes als auch die Scharia-Gesetze des IS miterlebt. Wie nehmen sie nun die Unterschiede zum jetzigen Rechtssystem wahr?
Im Jahr 2021 gingen bei den Justizbehörden der Selbstverwaltung 34.202 Klagen ein. Hinzu kommen die oben genannten zivilrechtlichen Fälle, die zumeist von den Gerechtigkeitskomitees beigelegt werden konnten. Wir haben also eine Menge zu tun. Das zeigt allerdings auch, dass die Menschen Vertrauen in das Rechtssystem von Nord- und Ostsyrien haben. Wir sind sehr darum bemüht, dass alle gesellschaftlichen Komponenten unserer Region im Justizsystem vertreten sind. Bei den Gerechtigkeitskomitees ist das ohnehin der Fall, weil sie direkt an ihre örtliche Kommune oder den lokalen Rat angebunden sind. Aber auch bei den Richter:innen und sonstigen Mitarbeiter:innen des Justizwesens ist uns wichtig, dass alle Volks- und Religionsgemeinschaften vertreten sind. Heute partizipieren eine große Zahl an Rechtsanwält:innen, die bei der syrischen Anwaltsvereinigung registriert sind, an unserem Justizsystem, und selbst einige frühere syrische Richter:innen haben sich vom Baath-Regime verabschiedet und arbeiten mit uns zusammen. Bei den Gerechtigkeitskomitees engagieren sich beispielsweise auch kurdische oder arabische Stammesälteste, die ohnehin über ein gesellschaftliches Ansehen verfügen und deren Wort Gewicht in der Bevölkerung hat.
Wir verfolgen bei unserem Rechtssystem eine Philosophie, die sich von derjenigen der bisherigen Machthaber deutlich unterscheidet. Zunächst einmal werden keine individuellen Entscheidungen gefällt. In den Gerechtigkeitskomitees sind es immer mindestens drei Personen, die vermitteln. Auch vor Gericht sind es stets mindestens drei Richter:innen, die ein gemeinsames Urteil fällen. Das ist eine Methode der Selbstkontrolle. Wir sind gegen ein Justizsystem, bei dem ein Richter oder eine Richterin alleine über das Schicksal eines Menschen entscheiden kann. Außerdem verfolgen wir nicht den Ansatz, dass wir durch das Justizsystem Menschen bestrafen möchten. Uns geht es um die Frage, wie wir eine Person, die in Konflikt mit dem Recht und der Gesellschaft geraten ist, wieder für uns gewinnen können. Es geht also um Rehabilitierung und Reintegration. Unser Rechtssystem soll nicht die Interessen der herrschenden Klasse, sondern der gesamten Gesellschaft schützen. Das nehmen die Menschen auch so wahr. Sie nehmen das Rechtssystem als gerecht wahr und unterstützen es.