Abdullah Öcalan hat vor seiner Entführung in die Türkei lange Jahre in Syrien verbracht und gearbeitet. Die Revolution von Rojava beruht auch auf seinem Wirken und seinen Ideen. Das Berliner Zentrum für kurdische Öffentlichkeitsarbeit (Civaka Azad e.V.) hat im siebten Teil einer Artikelreihe anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Rojava-Revolution mit Ferzend Munzir vom Komitee für die Freiheit Abdullah Öcalans in Nord- und Ostsyrien über die Zeit des PKK-Vorsitzenden in Syrien und seine Bedeutung für die Revolution von Rojava gesprochen
Die Revolution von Rojava ist für viele Menschen auf der gesamten Welt zu einer Hoffnung für ein alternatives Gesellschaftsmodell geworden. Über Rojava wird viel geschrieben und gesprochen. Nur wenige Menschen bringen die Errungenschaften in Nord- und Ostsyrien allerdings mit der Person Abdullah Öcalan in Verbindung. Kannst du uns erklären, warum Öcalan für diese Revolution wichtig ist?
Ich möchte deine Frage beantworten, indem ich mit einem kurzen Rückblick beginne: Jahrelang waren die Menschen hier in Nord- und Ostsyrien dem chauvinistischen Regime der Baath-Partei ausgesetzt. Die Politik des Regimes führte zu einer immensen Krise in der Region. Die Menschen waren mit Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert, jegliche demokratischen Rechte wurden beschnitten, die Menschenrechte wurden tagtäglich mit Füßen getreten und insbesondere gegen die kurdische Gesellschaft, aber auch gegen weitere Minderheiten Syriens, gab es eine Politik der Ausgrenzung und der schrittweisen Assimilation. Profitiert von diesem Regime hat tatsächlich nur ein ganz kleiner Teil der Gesellschaft.
Das waren die Vorbedingungen für die große Bewegung, die in dieser Region entstand und so viele Menschen mitreißen konnte. Es handelt sich um eine Bewegung, die aus der Gesellschaft selbst entsprang und die Realität ihrer Heimat sehr gut kannte. Die Ziele, für die sie kämpfte, waren Freiheit, Würde, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Der Aufstand gegen das Regime zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs war also nicht nur berechtigt und legitim, er war dringend erforderlich.
Doch was darauf folgte, war ein blutiger Krieg zwischen verschiedenen Gruppen und Parteien. Nicht nur das Regime war verantwortlich dafür, dass sich aus diesem Aufstand ein solch grausamer Krieg entwickelte. Auch globale und regionale Akteure, die ihre ganz eigenen Pläne für die Region verfolgten, führten diesen berechtigen Aufstand in eine blutige Sackgasse. Insbesondere der türkische Staat trägt hierfür eine große Mitschuld.
Es kam also zu einem Krieg, bei dem sich das syrische Regime auf der einen und Gruppen wie die Freie Syrische Armee, aber auch islamistische Gruppierungen wie der IS oder die Al-Nusra-Front gegenüberstanden. Inmitten dieses Chaos trat eine Bewegung zum Vorschein, die sich auf die Ideen und die Philosophie Abdullah Öcalans bezog und eine Politik des dritten, eines eigenen Weges verfolgte. Basierend auf Öcalans Vorschlag der demokratischen Moderne wurden Komitees, Kommunen, Räte und Institutionen gegründet, die sich entlang der Bedürfnisse der Gesellschaft organisierten. Einen wichtigen Bereich der Selbstorganisierung stellte der Aufbau der Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ dar. Auf diese Weise wurde die schwierige Startphase der Revolution zwischen März 2011 und 2012 bewältigt. Ich erinnere mich noch daran, wie pessimistisch die Menschen anfangs waren. Sie betrachteten unser Projekt als eine Totgeburt. Viele rieten uns davon ab und meinten, dass wir letzten Endes wohl doch in den Foltergefängnissen oder im Straßengraben enden würden. Andere schüttelten den Kopf und machten sich über uns lustig. Ich erinnere mich noch daran, wie mir ein Freund damals sagte: „Ihr grabt nach Wasser in einer ausgetrockneten Wüste.“
Aber Tag für Tag begann sich die Situation zu wandeln. Zwar verschlimmerten sich der Krieg und die Krise in Syrien zunehmend. Doch inmitten dieser Krise gaben die Perspektiven der Partiya Yekîtiya Demokratîk (Partei der Demokratischen Einheit, PYD) und der Tevgera Civaka Demokratîk (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft, TEV-DEM) Anlass für Hoffnung. Diese Organisationsstrukturen füllten Öcalans Ideen mit Leben und boten auf diese Weise Antworten auf die drängenden Probleme in unserer Region.
Öcalan selbst hat lange Zeit in Syrien verbracht. Sein Wirken in Syrien hat viele Menschen für die Arbeiterpartei Kurdistans begeistert. Kannst du uns von der Zeit Öcalans in Syrien berichten? Wie war sein Kontakt zur Bevölkerung in Rojava?
Wir müssen uns zunächst vor Augen führen, warum Abdullah Öcalan als Vordenker der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach Syrien bzw. auch in den Libanon kam. In der Türkei nahm die Zahl der Angriffe und Massaker durch den türkischen Staat stetig zu und letztlich mündeten diese im Militärputsch von 1980. Unzählige Parteikader wurden verhaftet oder ermordet. Um die organisatorische Struktur der PKK am Leben zu halten, aber auch um sich auf die neue Realität einzustellen, entschied sich Öcalan dazu, nach Rojava zu kommen. Hier wurden die Vorbereitungen für den nächsten Schritt getroffen und gleichzeitig wurden enge Beziehungen mit der Gesellschaft vor Ort und diplomatische Kontakte aufgebaut.
Das Ganze geschah in der Zeit der bipolaren Welt. Auf der einen Seite stand der kapitalistisch-imperialistische Block und auf der anderen Seite der realsozialistische Block. In dieser Aufteilung ordnete sich das syrische Regime in dem sozialistischen Lager ein. Grund dafür war, dass gewisse Teile des syrischen Territoriums durch die Staaten Türkei und Israel, zwei sich klar dem kapitalistischen Lager zuordnende Staaten, besetzt wurden. So kam es zu gewissen taktischen Beziehungen zwischen dem syrischen Regime und der PKK, da man ein gemeinsames Interesse hatte, gegen den imperialistischen türkischen Staat zu kämpfen. Öcalan hatte hierbei eine starke Vision des friedlichen Zusammenlebens im Nahen Osten und versuchte deswegen ein möglichst breites diplomatisches Netz an Beziehungen aufzubauen. Doch ihm war auch klar, dass es die Realität des syrischen Staates niemals zulassen würde, gemeinsam ein freies Leben aufzubauen.
Abdullah Öcalan nutzte seine Zeit in Nord- und Ostsyrien, um die Beziehungen zu den verschiedenen Teilen der Gesellschaft zu vertiefen. Insbesondere seine Erkenntnisse und Analysen zur Geschichte Kurdistans, der Krise im Nahen Osten, zum Freiheits- und Unabhängigkeitskampf, der Rolle der Frau, zu militanter Persönlichkeit etc. entstanden in dieser Zeit des Exils.
„Öcalan nahm sich die Zeit, die Belange der Menschen anzuhören“
Öcalan hat sich in Rojava unvermindert für die Revolution in ganz Kurdistan eingesetzt. Um das zu erreichen, fanden ständig Aktionen, Sitzungen und Treffen statt. Auch bemühte er sich mit der Gesellschaft in Austausch zu kommen und einen Dialog zu führen. Er nahm sich die Zeit, die Belange der Menschen anzuhören und mit ihnen gemeinsam mögliche Lösungen zu diskutieren. Es gab Veranstaltungen, zu denen mehrere tausend Kurdinnen und Kurden aus ganz Kurdistan zusammenkamen. Öcalan redete dort manchmal stundenlang, und die Menschen hörten ihm zu, stellten ihm Fragen, ohne dass ihnen langweilig wurde. Auf diese Art und Weise schaffte er es, die Menschen vor allem aus Syrien um sich zu sammeln und eine Verbindung zu ihnen aufzubauen, wie das vor ihm noch kaum jemand vermocht hatte. Die Grundlage eines tiefen Vertrauens, das bis heute ungebrochen anhält, wurde geschaffen. Öcalan selbst geht in einem seiner Bücher, die er in Haft geschrieben hat, auf diese Phase des Kampfes ein. Er beschreibt darin die Wichtigkeit dieser Zeit. Aufgrund dieser Jahre waren die Menschen später dazu bereit, große Opfer für die kurdische Sache aufzubringen. Die Beziehungen, die aufgebaut wurden, waren jedoch nicht auf die kurdische Gesellschaft beschränkt. Öcalan hatte das Talent, mit Delegationen verschiedener Volksgruppen zusammenzukommen. Er baute Beziehungen mit armenischen, assyrischen, turkmenischen und drusischen Menschen auf und traf sich mit Stammesführern, Kunstschaffenden und Intellektuellen. Das hat die Menschen über Jahre hinweg an die Person Öcalans, aber auch an die kurdische Bewegung gebunden.
Um das Bild zu vervollständigen, muss ich noch einmal kurz auf das syrische Regime eingehen. In Damaskus beobachtete man die Entwicklungen rund um Öcalan ganz genau und war zunehmend eingeschüchtert von den Entwicklungen. Die Folge waren staatliche Repressionen. Manchmal verhaftete das Regime urplötzlich dutzende, manchmal sogar hunderte Kader der PKK auf einmal, inhaftierte, schikanierte und verhörte sie. Auch Öcalan war regelmäßig von diesen Schikanen betroffen. Man kann sagen, dass die Gefängnisse und Sicherheitsabteilungen des syrischen Systems nie leer waren. Ständig waren Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung in Haft. Auch ich wurde beispielsweise viermal festgenommen und verurteilt, was mir insgesamt vier Jahre Haft einbrachte. Andere Sympathisanten und Mitglieder erhielten ebenfalls regelmäßig Strafen von zwei und mehr Jahren. Manche wurden sogar zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, viele von ihnen wurden in den Gefängnissen gefoltert.
Das Baath-Regime hat Abdullah Öcalans Präsenz in Syrien bis 1998 geduldet. Dann musste er das Land plötzlich verlassen. Wie kam es dazu?
Dass Abdullah Öcalan am 9. Oktober 1998 dazu gezwungen wurde, Syrien zu verlassen, war das Ergebnis eines von langer Hand geplanten internationalen Komplotts. Es war ein Plan, der von verschiedenen Geheimdiensten, vor allem aber unter der Vorreiterrolle der CIA, des Mossad und des türkischen Geheimdienstes MIT. Sie bauten einen großen Druck auf das syrische Regime auf. Letztlich wurde Hafiz al-Assad die Pistole auf die Brust gesetzt und vor die Wahl gestellt, entweder Öcalan auszuweisen oder einen militärischen Angriff durch den türkischen Staat im Norden und Israel im Süden in Kauf zu nehmen. Ein hochrangiges Mitglied des syrischen Staates sagte damals ganz klar: „Wenn Öcalan nicht übergeben oder ausgeschaltet wird, dann wird es zu einem Angriff auf Syrien kommen.“ Auch der ägyptische Präsident Hosni Mubarak machte Andeutungen in diese Richtung.
Öcalan setzte sich mit seiner Lage damals auseinander. Ihm war klar, dass es sich nicht um leere Drohungen handelte. Wenn er das Land nicht verließ, würde der Krieg ausbrechen. Eine Möglichkeit, die er sah, war der Weg in die Berge. Das hatte er bisher immer vermieden und wollte auch jetzt diesen Weg nicht einschlagen, da ihm bewusst war, dass er den Krieg in den Bergen massiv intensivieren und viele Menschenleben kosten würde. Für ihn war es stets wichtig, den Krieg so klein wie möglich zu halten und mit möglichst wenigen Opfern zu führen. Genau in dieser Phase erreichte Öcalan eine Delegation aus Griechenland, welche ihm vorschlug, nach Europa zu kommen. Es schien der beste Weg zu sein. Die Leitung der PKK sah das als Chance, die politische Ebene der kurdischen Frage auch außerhalb des Nahen Ostens zu thematisieren. Man hoffte, dort effektiver an friedlichen Lösungen arbeiten zu können anstatt den Krieg eskalieren zu lassen.
So machte sich Öcalan, seine Ausreise aus dem Nahen Osten auch als politische Chance betrachtend, damals auf den Weg. Doch was folgte, war eine mehrere Monate anhaltende Odyssee, der internationale Komplott. Wider jeglichen geltenden Rechts wurde Öcalan schließlich aus der griechischen Botschaft in Kenia verschleppt und an die Türkei übergeben.
1999 wurde Abdullah Öcalan an die Türkei ausgeliefert. Seitdem wird er im Gefängnis Imrali festgehalten. Wie war die Reaktion in Rojava und Syrien auf die Entführung und Festnahme Öcalans?
Mit Öcalans Entführung ging ein großer Schock um die ganze Welt. Viele Menschen gingen weltweit auf die Barrikaden. Die Menschen protestierten gegen das Unrecht, das Öcalan und durch ihn der ganzen kurdischen Gesellschaft angetan wurde. Um auf deine Frage zurückzukommen: In Rojava war den Menschen sofort klar, dass dieses internationale Komplott nicht auf Abdullah Öcalan als Individuum abzielte, sondern sich gegen die gesamte kurdische Gesellschaft richtete. Allen Kurdinnen und Kurden sollte klar gemacht werden, dass wenn sie aufbegehren, alles dafür getan wird, sie wieder einzufangen und zu unterdrücken. Dementsprechend reagierten die Menschen hier auch sehr schnell und sehr klar. Hunderttausende Menschen gingen sofort auf die Straßen und wollten diese erst wieder verlassen, wenn Öcalan freigelassen würde. Parallel zu den überall stattfindenden Aktionen auf den Straßen schlossen sich tausende Jugendliche als Reaktion auf das Komplott der PKK an. Es gab einige, die sogar soweit gingen, aus Protest gegen das Ohnmachtsgefühl ihren eigenen Körper bei lebendigem Leibe in Brand zu setzten. In diesen Tagen und Wochen nach dem Komplott zeigten die Menschen eine immense Verbundenheit zu Öcalan und brachten unglaublich große Opfer.
In Nord- und Ostsyrien werden Abdullah Öcalans Ideen jetzt in die Praxis umgesetzt. Wie wird Öcalan heute von der Bevölkerung in der Region wahrgenommen? Wie nehmen ihn die Menschen in den nicht-kurdischen Gebieten wahr?
In Rojava und allgemein in Nord- und Ostsyrien wurde ein alternatives System der Selbstverwaltung geschaffen. Es basiert auf gesellschaftlichen Werten, die das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Volksgruppen und Kulturen gewährleisten. Genau daran sind letztlich auch der IS und andere Kräfte wie al-Qaida in der Region zerbrochen. Die Errichtung ziviler, sozialer und demokratischer Institutionen, in denen die Gesellschaft regelmäßig auf Versammlungen zusammenkommt, stellt eine Stärke dar, mit der gegen Staaten und Terrorbanden in der Region Widerstand geleistet wird.
Efrîn-Vertriebene mit Bildern von Abdullah Öcalan und gefallenen Angehörigen in Şehba
All das konnte nur durch die von Öcalan vorgelegten Thesen und Analysen geschafft werden. Das ist den Menschen hier bewusst und dafür wird er bis heute immens respektiert. Die Menschen hier, vor allem auch arabische Stämme, sehen ihn als einen Vorreiter für das demokratische Zusammenleben zwischen den Völkern und Ideengeber für eine demokratische Moderne. Insbesondere die Art und Weise, wie Öcalan mit Menschen umgegangen ist und wie er seinen Kampf führt, beeindruckt die Menschen hier und treibt sie an. Das zeigt sich im Alltag, aber auch in den Demonstrationen oder Kampagnen, die sich für seine Freiheit einsetzen.
Nach der Revolution von Rojava gab es von westlichen Journalist:innen die Kritik, dass die Bilder Assads mit denjenigen von Öcalan ausgetauscht worden sind. Was sagt ihr zu dieser Kritik?
Der Wandel, der in Rojava und Nord- und Ostsyrien stattgefunden hat, lässt sich kaum in Worte fassen. Es ist eine Revolution, die auf allen Ebenen einen Wandel gebracht und demokratische Institutionen mit dem Ziel geschaffen hat, sich für eine politische, demokratische, ökologische und freie Gesellschaft einzusetzen. Man entfernt sich immer weiter von einem System der Monopole, welche die Umwelt zerstören und die Menschen marginalisieren. Tausende, die zuvor nichts außer ihr Dorf oder ihren Stamm kannten, haben sich aufgemacht, Menschen zu verteidigen, denen sie nie begegnet sind. Öcalan hat mit seiner Theorie der demokratischen Moderne etwas geschaffen, das den Menschen Hoffnung gibt. Er hat den Menschen etwas gegeben, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Bezüglich des Vorwurfs der westlichen Medien kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Sie betrachten die Welt aus ihrer Perspektive. Wir hängen hier Öcalans Bilder auf, weil wir in ihm mehr sehen als „einfach nur einen Mann“. Er ist es, der eine Alternative geschaffen hat. Durch ihn haben wir weit weg von der Realität des Folterregimes Assads unsere Freiheit aufbauen können. Wir waren früher gezwungen, Assads Bilder aufzuhängen und ihn als Herrscher zu fürchten. Die Bilder von Abdullah Öcalan hängen wir auf, weil sie uns Hoffnung und Kraft geben. Sie erinnern uns daran, dass eine andere Welt möglich ist, wenn wir sie zu erschaffen bereit sind. Wer das nicht verstehen kann, sollte sich nicht als Journalist bezeichnen und vor allem nicht über unsere Revolution berichten.