„Die Verteidigung der Revolution führt über ökologische Gerechtigkeit“

Es bedarf eines ökologischen Bewusstseins in der Gesellschaft, damit die zukünftigen Generationen ein würdevolles Leben führen können. Die Verteidigung der Revolution von Rojava führt auch über den Kampf um ökologische Gerechtigkeit.

Das Berliner Zentrum für kurdische Öffentlichkeitsarbeit (Civaka Azad e.V.) hat für den sechsten Teil seiner Artikel- und Interviewreihe zum zehnjährigen Jubiläum der Revolution von Rojava einen Blick auf die ökologischen Herausforderungen in Nord- und Ostsyrien geworfen und mit Cihad Umer gesprochen, dem Ko-Vorsitzenden der Abteilung für Kommunalverwaltung und Ökologie in der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens.

Die Revolution von Rojava fußt auf der Theorie des Demokratischen Konföderalismus nach Abdullah Öcalan. Der Demokratische Konföderalismus wiederum ist dem Anspruch nach ein ökologisches Paradigma. Was bedeutet das konkret in Rojava?

Wir versuchen hier die Idee der „Demokratischen Nation“ umzusetzen. Diese beruht auf einem konföderalem System und zielt darauf, eine pluralistische, ökologische, gleichberechtigte und geschlechterbefreite Gesellschaft aufzubauen. Die Ökologie ist also ein Grundpfeiler unseres Modells und unserer Perspektive.

Was die Praxis der Rojava-Revolution angeht, ist uns bewusst, dass dem Thema Ökologie bislang nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dennoch kann auch nicht geleugnet werden, dass wir einige wichtige Schritte in diesem Bereich getan haben. Wir arbeiten beispielsweise kontinuierlich daran, ein Umweltbewusstsein in der Gesellschaft zu verankern. Die Kommunen und Kooperativen werden nach ökologischen Maßstäben aufgebaut. Wir versuchen ein Bewusstsein für Hygiene in die Gesellschaft zu tragen. In den Städten arbeiten wir beispielsweise daran, mehr Grünflächen zu schaffen, die auch als Orte des Zusammenkommens dienen sollen. Auf institutioneller Ebene haben wir in den Städten und Gemeinden Umweltdirektorate geschaffen, die sich um die ökologischen Fragen vor Ort kümmern. Es wurden zudem allgemeine ökologische Richtlinien und Direktiven herausgegeben, die von den Wirtschaftsbetrieben einzuhalten sind. Die Einhaltung dieser Richtlinien wird von zuständigen Ausschüssen und Gremien in den Kommunen und Stadtverwaltungen überprüft.

Das alles sind nur erste Schritte. Aber wir bemühen uns, die Arbeiten im Bereiche der Ökologie stetig zu stärken und überall sichtbar zu machen.

Cihad Umer von der Abteilung für Kommunalverwaltung und Ökologie in Rojava

Du hast einiges von euren Arbeiten berichtet. Menschen, die für eine Zeit nach Rojava reisen, fällt allerdings besonders das Müllproblem in den Großstädten auf. Woran liegt das? Warum lässt sich hierfür keine Lösung finden?

Das Abfallproblem ist ein globales Problem und nicht nur auf unsere Region beschränkt. Früher hat das Regime dem Problem der Abfallbehandlung keine Bedeutung beigemessen, so dass es der Region an der grundlegenden Infrastruktur für die Müllbeseitigung fehlte. Mit der Revolution wurde die Angelegenheit für uns noch komplizierter. Denn es fehlten die Mittel und Kapazitäten, Lösungen für dieses Problem zu finden. Es mangelte tatsächlich an allem. Wir hatten noch nicht einmal genügend Müllcontainer auf den Straßen. Heute funktioniert es besser, aber zufriedenstellend sind die Lösungen leider immer noch nicht. Wir kümmern uns auf zwei Ebenen um dieses Problem: Zum Einen betreiben wir Aufklärungsarbeit und wollen den Menschen die Wichtigkeit von individueller Mülltrennung und Abfallbeseitigung näherbringen. Zum anderen sind wir darum bemüht, die passende Infrastruktur für die Müllbeseitigung in den Städten und auf dem Land auf die Beine zu stellen.

Erdöl ist eine wichtige Einkommensquelle für Rojava. Die Aufbereitung des Erdöls in Rojava ist allerdings umwelt- und gesundheitsschädlich. Wie geht ihr mit diesem Problem um?

Was das Problem der Erdölförderung mit primitiven Methoden betrifft, so leiden wir tatsächlich enorm darunter. Wir kämpfen mit dem Problem, dass die Region einem wirtschaftlichen Embargo ausgesetzt ist, und wir haben beispielsweise nicht die Möglichkeit, hier moderne Raffinerien aufzubauen, die umweltschonender arbeiten. Daher bemühen wir uns stark darum, die durch die Aufbereitung des Erdöls verursachten Schäden zu minimieren, indem wir die Betreiber der Raffinerien dazu verpflichten, die Qualität der Aufarbeitung zu verbessern und sie auf Elektrobetrieb umzustellen. Im Falle eines Verstoßes erheben wir Sanktionsgebühren. Außerdem werden Gespräche mit den betroffenen Behörden geführt, um Lösungen zu finden, die weniger umweltschädlich sind.

Auch die Verknappung des Wassers ist ein Riesenproblem in Nord- und Ostsyrien. Die Türkei staut die Flüsse, das Klima wird trockener, es gibt Ernteausfälle. Welche Lösungsansätze können für diese Probleme entwickelt werden?

Die türkische Besatzung will uns mit einer bewussten Politik der Wasserverknappung zur Kapitulation zwingen. Sie setzt Wasser als Waffe ein und will damit durchsetzen, was ihr durch die permanenten militärischen Angriffe nicht gelungen ist. Ihr Ziel ist ganz klar eine Entvölkerung der Gebiete Nord- und Ostsyriens und die Einleitung eines umfassenden demografischen Wandels. Wir betrachten den Wasserentzug als ein Problem, das die Region stark beeinträchtigt, insbesondere das Gebiet um Hesekê, wo nicht nur die Landwirtschaft und die Tiere vom Wasser abgeschnitten wurden, sondern auch die umliegenden Flüsse. Die Folgen für das gesamte Ökosystem der Region sind katastrophal.

Die Lösungen, mit denen wir die Folgen dessen abfedern wollen, sind vielfältig. Wir legen beispielsweise große Zisternen an, um Regenwasser abzufangen und aufzubereiten. Wir versuchen natürlich auch die Gesellschaft über die Situation aufzuklären und sie dafür zu sensibilisieren, bewusst mit den Trinkwasserreserven umzugehen und es nicht zu verschwenden. Im vergangenen Jahr haben wir zudem ein internationales Wasserforum abgehalten, an dem etwa 50 internationale Organisationen teilgenommen haben, um die von der Türkei verursachte Wasserknappheit in der Region zu beleuchten. Und wir werden natürlich weiterhin Untersuchungen und Studien durchzuführen, um Antworten auf diese schwerwiegende Situation zu finden.

Wie organisiert sich der ökologische Bereich in Nord- und Ostsyrien? Gibt es beispielsweise Ökologieräte? Und welche Rolle spielen die Stadtverwaltungen bei den Arbeiten zur Ökologie?

Tatsächlich befinden wir uns im Bereich der Ökologiearbeit in einer Umstrukturierungsphase. Bislang wurde der Bereich vor allem durch die lokalen Stadtverwaltungen bedient. Zudem gibt es in den Städten Umweltdirektionen, die im engen Austausch mit den Stadtverwaltungen stehen und mit der praktischen Arbeit betraut sind. Auf der Ebene der Autonomen Selbstverwaltung gibt es innerhalb des Exekutivrates einen Verantwortlichkeitsbereich für „Lokalverwaltung und Umwelt“. Das ist sozusagen die höchste Koordinationsebene der ökologischen Arbeiten in Nord- und Ostsyrien.

Wir sind allerdings zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht ausreicht, die ökologischen Arbeiten alleine im Verantwortungsbereich der Stadt- und Kommunalverwaltungen zu belassen. Aus diesem Grund arbeiten wir derzeit am Aufbau von sogenannten Ökologieräten in den Kantonen. Mit Hilfe dieser Struktur wollen wir die ökologischen Arbeiten gesellschaftlicher organisieren. Neben den Vertreter:innen der Stadtverwaltung und der Umweltdirektionen sollen beispielsweise auch Vertreter:innen der Frauenbewegung, des Gesundheitswesen, der Bildungsstrukturen oder der Landwirtschaft Teil dieses Rates werden. Wir haben uns schon mehrfach getroffen und befinden uns im Aufbauprozess. Sobald wir alle organisatorischen Fragen geklärt und unsere Aufgaben und Ziele ausformuliert haben, werden wir die Gründung der Ökologieräte verkünden.

Der Kapitalismus betrachtet die Natur lediglich als auszubeutende Ressource. Die Folgen dessen sind heute für alle ersichtlich. Wie unterscheidet sich euer Verständnis von Natur und Umwelt von demjenigen der kapitalistischen Logik?

Der Unterschied zwischen unserem Paradigma und der Logik des Kapitalismus besteht darin, dass wir den Menschen als Teil der Natur betrachten. Im kapitalistischen Verständnis steht allein der Mensch im Mittelpunkt. Er wird über die Natur gestellt und der Umwelt wird nur ein instrumenteller bzw. nutzenorientierter Wert zugeschrieben. Die Folgen dessen sind allseits bekannt. Die Zerstörung der Natur hat weltweit einen untragbaren Zustand angenommen. Sie reicht von der Zerstörung und massiven Rodung der Wälder bis hin zu Tonnen von Plastikmüll, der die Lebewesen im Meer und außerhalb bedroht. Was wir anstreben, ist ein Gleichgewicht zwischen allen lebenden Organismen zu schaffen, ihren Eigenwert anzuerkennen und eine Wirtschaft und Industrie aufzubauen, die den Umweltschutz als Grundpfeiler betrachtet. Es steht niemanden zu, die Bedeutung der Natur und der Umwelt in Frage zu stellen.

In Nord- und Ostsyrien herrscht weiterhin Krieg. Deswegen haben viele Menschen kein offenes Ohr für ökologische Fragen. Sie haben das Gefühl, dass es dringendere Probleme gibt. Was antwortet ihr diesen Menschen? Und was tut ihr, damit sich in der Gesellschaft generell ein ökologisches Bewusstsein entwickelt?

Die Fortsetzung des Krieges wirkt sich selbstverständlich direkt auf unsere Arbeit aus und schafft große Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Menschen von einem ökologischen Bewusstsein zu überzeugen. Die Gesellschaft hat vor dem Hintergrund der permanenten Angriffe schlichtweg andere Prioritäten. Wir versuchen dagegen vorzugehen, indem wir den Menschen auf den Kommunen- und Ratsversammlungen verdeutlichen, dass diese Probleme nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Klar, die Verteidigung unserer Gebiete ist auch eine militärische Angelegenheit. Aber wer seine Heimat schützen will, muss auch die Umwelt und die Natur schützen. Das hängt alles miteinander zusammen. Die Probleme, die durch Umweltverschmutzung entstehen, führen zu gesundheitlichen Problemen. Manchmal können sie dazu führen, dass ganze Landstriche nicht mehr bewohnbar sind. Diese Folgen sind genauso fatal wie die Auswirkungen des Krieges. Es bedarf eines ökologischen Bewusstseins in der Gesellschaft, damit auch die zukünftigen Generationen ein würdevolles Leben hier führen können. Die Verteidigung der Revolution führt also über den Kampf um ökologische Gerechtigkeit.


Weitere Interviews und Artikel aus der Reihe:

Teil 1: Zehn Jahre Rojava-Revolution – Ein persönlicher Rückblick

Teil 2: Dem Mosaik Nord- und Ostsyriens gerecht werden

Teil 3: Die Frauenrevolution von Rojava ist im Mittleren Osten beispiellos

Teil 4: Solidarität gegen alle Widerstände: Humanitäre Hilfe in Nord- und Ostsyrien

Teil 5: Eine wirkliche Revolution lässt sich nicht durch einen Machtwechsel bewerkstelligen