Xebat Andok: Istanbul-Wahl ist eine historische Gelegenheit

„Die Erdoğan-Regierung erlebt ihre Endphase. Diese Situation ist erkämpft worden“, erklärt Xebat Andok (KCK) und ruft zur Wahlbeteiligung in Istanbul auf: „Für alle, die die AKP-Regierung loswerden wollen, bietet sich eine historische Gelegenheit.“

Als Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat sich Xebat Andok in einer Sondersendung im kurdischen Sender Stêrk TV zu der Wiederholung der Kommunalwahl in Istanbul am 23. Juni und der Fortsetzung der Offensive „Isolation durchbrechen, Faschismus zerschlagen, Kurdistan befreien“ geäußert. Ein erneuter Wahlsieg der Opposition in Istanbul werde den Niedergang des faschistischen AKP/MHP-Regimes in der Türkei bedeuten, erklärte Andok im Interview und rief zur Wahlbeteiligung auf.

Herr Andok, die Offensive „Isolation durchbrechen, Faschismus zerschlagen, Kurdistan befreien“ geht auch nach Beendigung des Hungerstreiks weiter. Wie wird diese Kampagne geführt, damit es zu einer Demokratisierung der Türkei kommt?

Mit dem Hungerstreik und dem Todesfasten ist Bewegung in der Gesellschaft entstanden. Die Aktionen sind mit dem Aufruf Abdullah Öcalans beendet worden. Der Widerstand hat sein Ziel erreicht, aber die Offensive ist damit nicht beendet, denn der Faschismus besteht weiter.

In der Türkei muss es zu einer ernsthaften Veränderung kommen. Die Kurden führen einen Existenzkampf. Nach wie vor werden sie und der Name Kurdistan nicht anerkannt. Ihre Sprache wird abgelehnt. Sie haben weder Land noch eine anerkannte Identität. In der Türkei gibt es nicht nur eine kurdische Frage, wesentliche Teile der Gesellschaft haben Probleme, weil sie es mit einem Staat zu tun haben, in dem es keine Demokratie, keine Gerechtigkeit und kein Zusammenleben gibt. Die Gesellschaft ist traumatisiert. Täglich kommt es wegen Hunger, Arbeitslosigkeit oder antidemokratischem Vorgehen zu Selbstmorden.

Die Menschen erleben eine Wirtschaftskrise und die Gesellschaft ist gespalten. Deshalb bestehen sowohl in der Türkei als auch in Kurdistan große Probleme. Die Ursache dieser Probleme ist der Faschismus der AKP und MHP, die diesen Staat regieren. Natürlich haben die Probleme nicht erst mit dieser Regierung begonnen, auch vorher war die Türkei kein demokratisches Land. Hätte Demokratie geherrscht, wären diese Probleme ohnehin gelöst worden. Die AKP/MHP-Koalition ist die Fortsetzung von Besatzungskräften. In Kurdistan und in der Gesellschaft der Türkei stößt die Regierung auf negative Reaktionen. Solange der Faschismus andauert, können wir nicht davon ausgehen, dass die bestehenden Probleme gelöst werden.

Bisher haben zwei Gespräche zwischen Abdullah Öcalan und seinen Anwälten stattgefunden. Öcalan hat dabei die Bedeutung einer demokratischen Politik betont. Gegen den Faschismus im Land wird unter kurdischer Führung ein großer Kampf geführt. Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen? Glauben Sie, dass es zu großen Veränderungen kommen wird?

Solange es täglich Angriffe auf die Kurden und die Gesellschaft gibt, kann keine demokratische Politik entstehen. Nach wie vor kommt es zu Verhaftungen und Festnahmen, es herrscht eine Verbotspolitik, mit der die Menschen aus dem Land vertrieben werden. Die Türkei erlebt eine Migration der Köpfe, weil es keine Demokratie gibt. Gegen die herrschende Repression muss gekämpft werden. Die Kurden befinden sich in einer solchen Position. Sie kämpfen seit Jahrhunderten für die Sicherung ihrer Existenz. Es gibt Millionen kurdische Gefallene. Der Kampf in der Türkei geht weiter, weil der Faschismus immer noch nicht zerschlagen ist.

Wir haben etliche Mal wiederholt, dass sich die Isolation Abdullah Öcalans gegen die gesamte Gesellschaft richtet. Vielleicht ist angenommen worden, dass es sich nur um den Wunsch der Kurden handelt, weil dieser Fakt nicht besonders gut erklärt worden ist. Man muss sich die Türkei jedoch nur ansehen, um zu erkennen, dass eine allgemeine Isolation herrscht. Zum Beispiel kann niemand seine Gedanken frei äußern, alle stehen unter Druck. Selbst bei Straßenumfragen traut sich niemand offen zu sagen, wen er oder sie wählen wird. Es gibt eine große Unzufriedenheit, aber niemand wagt es, sie zur Sprache zu bringen. So gesehen sind alle isoliert.

Auch Frauen sind von der Isolation betroffen. In der Geschichte der Türkei sind noch nie so viele Frauen ermordet worden wie unter der AKP-Regierung. Noch nie hat es so viele Vergewaltigungen gegeben. Frauen, Jugendliche, Politikerinnen und Politiker, Werktätige, die gesamte Gesellschaft steht unter Druck. Mit der Repression soll der Willen der Gesellschaft gebrochen werden. Die Menschen sollen nur noch gehorchen. Alles soll nur den Interessen der Herrschenden dienen. In der letzten Zeit hat sich das finstere Gesicht der AKP gezeigt. Selbst Erdoğans Verbündete haben ihn verlassen und sind gegangen. Und alle werfen ihm dasselbe vor: Dass er sich fernab von Moral, Gerechtigkeit und menschlichen Werten bewegt, dass er den Islam für seine Interessen benutzt, dass er die empfindlichen Punkte der Bevölkerung missbraucht und ein Despot geworden ist. Dass er der Pharao der Gegenwart geworden ist und das gleiche Ende wie die Pharaonen des Mittleren Ostens erfahren wird. Es wird ständig von dem Gezi-Aufstand gesprochen. Wenn die Gesellschaft der Türkei noch einmal eine solche Gelegenheit bekommt, wird es zehn Gezis geben.

Die Erdoğan-Regierung erlebt ihre Endphase. Diese Situation ist erkämpft worden. Vor allem der Hungerstreik, die Straßenproteste der Mütter und die Kommunalwahlen vom 31. März haben dazu geführt. Als Ergebnis des Widerstands musste ein Besuch bei Abdullah Öcalan zugelassen werden. Damit ist etwas geschehen, von dem vorher behauptet wurde, dass es unmöglich ist. Wenn der Kampf in noch etwas besser organisierter Form weitergeht, wird die Regierung dem Erdboden gleichgemacht.

Es wird viel über die Neuwahlen in Istanbul diskutiert. Istanbul ist wichtig für die Türkei. Welche Rolle spielt die HDP dabei? Die HDP ist eine Partei der gesamten Türkei, wie kann sie Ihrer Meinung nach ihre Mission erfüllen? Welchen Einfluss haben die Kurden bei der Istanbul-Wahl?

Die HDP ist nach den Vorstellungen Abdullah Öcalans aufgebaut worden. Sie ist ein Projekt, das im Bewusstsein der Existenz vieler verschiedener Kulturen und Völker in der Türkei entstanden ist. Stellen wir uns die Frage, inwieweit dieses Bewusstsein in der HDP umgesetzt wird, sehen wir jedoch die Unzulänglichkeit an diesem Punkt. Die HDP ist eine sehr bunte Partei, aber in der Gesellschaft erscheint sie nicht so.

Wenn ich in der HDP wäre, würde ich mir Gedanken darüber machen, wie bunt ich aussehe. Sollte die HDP nur innerhalb Kurdistans bleiben, tut sie genau das, was der Besatzerstaat und der MIT wollen. Die HDP muss entsprechend ihres Programms und ihrer Ideologie vorgehen. Zum Beispiel ist sie nicht überall vertreten. Dadurch wird ihr Spielraum eingeengt.

Natürlich wird die HDP vom faschistischen Regime ganz anders angegriffen als andere Parteien. Im Faschismus werden nicht alle auf gleiche Weise angegriffen. Zum Beispiel ähneln die Angriffe in Kurdistan nicht den Angriffen an anderen Orten. Für die Kurden ist ein Genozid beschlossen worden. Die Kurden sollen vernichtet und Kurdistan soll zerschmettert werden.

Die Istanbul-Wahl geht alle etwas an. Welche Rolle haben die demokratischen Kräfte dabei? Was für eine Haltung haben sie zu den Wahlen? Und wie bewerten Sie die Wahl?

Die Kommunalwahlen vom 31. März sind immer noch nicht vorbei. Daran zeigt sich die mangelnde Organisation der gesamten Opposition einschließlich der HDP. Die Opposition hat sich damit gebrüstet, dass sie sich ihre Rechte nicht nehmen lässt, aber leider ist es anders gekommen. Weder die Performance der HDP noch die der CHP hat ausgereicht. Die HDP hat in Kurdistan an vielen Orten gewonnen, aber der Wahlsieg wurde ihr aberkannt. Dagegen hat die HDP keine ernsten Reflexe gezeigt. Wenn man nicht eisern gegen den Faschismus kämpft, werden einem die Errungenschaften wieder genommen.

Ursächlich dafür, dass die AKP/MHP-Koalition die Istanbul-Wahl hat annullieren können, ist die Unzulänglichkeit der Opposition. Jetzt setzt die Regierung ihre gesamte Kraft ein, um Istanbul nicht zu verlieren. Sie geht davon aus, dass sie ihre Lebensdauer verlängern kann, wenn sie Istanbul gewinnt. Wenn Istanbul an die AKP/MHP-Regierung fällt, wird der Faschismus ausgeweitet. Am 31. März hat die AKP/MHP-Koalition verloren, jetzt hat sie die Möglichkeit, den erlittenen Schaden wieder gutzumachen. Der Grund dafür ist das Durcheinander der Opposition.

Die HDP hat bei den Wahlen auf die richtige Strategie gesetzt. Als Ergebnis dieser Strategie ist es zum Zusammenbruch der AKP/MHP gekommen, aber um den Faschismus gänzlich zu zerschlagen, muss sich die Performance der HDP und der anderen demokratischen Kräfte verbessern. Sie müssen bei der Wahlwiederholung am 23. Juni Erfolg haben.

Wie werden sich die Kurden bei der Istanbul-Wahl verhalten?

Die Istanbul-Wahl ist für die Kurden und die demokratischen Kräfte ebenso wichtig wie für die Regierung. Wer bekommt die meisten Stimmen von den Kurden in Istanbul? Die HDP. Die Kurden haben ein Problem mit dem Faschismus. Damit der Faschismus endet, wollen sie ihre Stimmen strategisch nutzen. Das haben sie bereits am 31. März getan. Die Kurden müssen auch dieses Mal zur Stimmabgabe gehen, als ob sie die HDP wählen würden.

Die HDP muss mindestens so aktiv wie die CHP sein. Für alle, die die AKP-Regierung loswerden wollen, bietet sich im Moment eine historische Gelegenheit. Sie sollen ihre Stimmen gegen den AKP/MHP-Faschismus benutzen. Wenn die Opposition ein weiteres Mal in Istanbul gewinnt, wird die Wirkung noch größer als am 31. März sein.

Kann von dem Beginn einer demokratischen Zeit gesprochen werden, wenn Ekrem Imamoğlu die Wahl gewinnt und die AKP eine Niederlage erleidet?

Es handelt sich natürlich nur um eine Kommunalwahl. Es wird keine Regierung gewählt, aber wer auf kommunaler Ebene verliert, kann sich nicht lange auf den Beinen halten. Eine Wahlniederlage würde vermutlich zu einem Bruch der AKP/MHP-Koalition führen, innerhalb der AKP würde die Schuld der MHP zugesprochen werden. Außerdem wird es zu einer neuen Formation unter Führung von Davutoğlu kommen. Kurz gesagt, wenn Istanbul verloren geht, geht auch die AKP, das sollte allen bewusst sein.