Über eine Woche ist seit den Kommunalwahlen vom 31. März vergangen, aber die Diskussionen über das Wahlergebnis in der Türkei sind noch nicht beendet. Der Kampf gegen die faschistischen Angriffe und Tricks der AKP/MHP geht weiter. Bei diesem Tempo sieht es nicht so aus, als würde er bald enden. Es scheint jedoch, dass er allmählich einer Debatte über vorgezogene Wahlen weichen wird. Es gibt tatsächlich einen neuen Wendepunkt in der türkischen Politik. Was sich daraus entwickeln wird und wie eine neue politische Struktur aussehen könnte, hängt von den Ergebnissen des dafür geführten Kampfes ab.
Dieses Resultat hätte eigentlich bereits bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 erreicht werden können. Trotz aller Arten von faschistischer Unterdrückung und Betrug hätten Ergebnisse erzielt werden können, die einen Wechsel der derzeitigen Regierung ermöglicht hätten. Die Gründe dafür, dass es nicht dazu gekommen ist, sollten in der Wahlstrategie und Taktik der Opposition gegen den AKP/MHP-Faschismus gesucht werden.
Die Wahlergebnisse von 2023 haben keinen neuen Veränderungsprozess in der türkischen Politik eingeleitet. Erst der anschließend erfolgte Wechsel in der CHP, als Kemal Kılıçdaroğlu nach dreizehn Jahren als Parteivorsitzender von Özgür Özel abgelöst wurde, hat einen Wandel bewirkt und letztlich zu den Ergebnissen der Kommunalwahlen vom 31. März geführt. Wir haben schon früher auf diese Tatsache hingewiesen und gesagt: „Wenn es für Kemal Kılıçdaroğlu vorbei ist, wird es auch für Tayyip Erdoğan vorbei sein.“ Tatsächlich ist wenige Monate nach dem Sturz von Kemal Kılıçdaroğlu auch Tayyip Erdoğan gestürzt.
Wir sagen „gestürzt", weil in einem demokratischen Umfeld jeder Vorsitzende einer Partei, die nach den Wahlergebnissen vom 31. März in die Position der AKP gefallen ist, zurückgetreten wäre. Dass Tayyip Erdoğan nicht einmal von seinem Posten als AKP-Vorsitzender zurücktritt, zeigt wie inhaltsleer der Begriff Demokratie in der Türkei geworden ist. In seiner ersten Rede nach den Wahlen sagte er: „Dieses Ergebnis ist nicht das Ende, sondern ein Wendepunkt." Zweifellos ist es ein Wendepunkt für die türkische Politik, aber für Tayyip Erdoğan und die derzeitige AKP ist das Ergebnis der Kommunalwahlen tatsächlich das Ende. Die Tatsache, dass dieser Begriff Tayyip Erdoğan in den Sinn gekommen und ihm über die Lippen gekommen ist, bedeutet, dass er das Wahlergebnis auf diese Weise wahrnimmt und sieht. Der Rest ist ein Diskurs, der darauf abzielt, die AKP-Anhänger zu täuschen. Das ist das erste wichtige Ergebnis der Kommunalwahlen vom 31. März.
Die anderen Ergebnisse lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: Das kurdische Volk hat dem Faschismus wieder einmal einen Riegel vorgeschoben hat und ihn nicht durchgelassen. Sowohl die Ergebnisse in Kurdistan als auch die Haltung der in der Türkei lebenden Kurdinnen und Kurden zeigen dies deutlich. Die große Beharrlichkeit des kurdischen Volkes für ein freies Leben und eine Demokratisierung der Türkei gegen alle Arten von faschistisch-genozidaler Unterdrückung und Täuschung ist bewundernswert und kann nicht genug gewürdigt werden. Auch für die DEM-Partei waren die Wahlergebnisse ein gewisser Erfolg. Die Position der DEM-Partei in der gesamten Türkei kann natürlich diskutiert und bewertet werden. Diese Frage wird wahrscheinlich von den entsprechenden Kräften und an den entsprechenden Stellen diskutiert.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die CHP unter der Führung von Özgür Özel die Wahlen gewonnen hat und die erste Partei in der Türkei geworden ist. Dieses Ergebnis ist wichtig, weil die CHP damit Anwärterin für die Regierung der Türkei geworden ist, und das unmittelbar nach dem Sturz des ewigen Verlierers Kemal Kılıçdaroğlu aus dem Amt des Parteivorsitzenden. Es ist insofern von Bedeutung, als es eine Neubewertung der Identität von Kemal Kılıçdaroğlu zur Folge hat. Die CHP ist fünfzig Jahre nach der Wahl von Bülent Ecevit am 14. Oktober 1973 erstmalig unter Özgür Özel wieder zur stärksten Partei geworden. Daher sollte dieses Ergebnis umfassend bewertet und richtig verstanden werden.
Ein weiteres Ergebnis ist die Entwicklung der YRP („Neue Wohlfahrtspartei“) unter Fatih Erbakan zur drittstärksten Partei in der Türkei. So wie Necmettin Erbakan 1973 bei den Wahlen ist nun auch seinem Sohn ein Durchbruch gelungen. Das bedeutet, dass die in der Vergangenheit als vermeintliche Nachfolge der RP („Wohlstandspartei“) gegründeten Parteien in Wirklichkeit Teil der Operation waren, Necmettin Erbakan zu erledigen. Das hat Fatih Erbakan jetzt überwunden. Es ist jedoch noch nicht klar, wo sein Platz in der neuen politischen Landschaft sein wird.
Es ist nicht wirklich erwähnenswert, aber weil viel darüber diskutiert wurde, sollten auch ein paar Worte über die als Hüda Par bezeichnete Organisation gesagt werden. Die AKP hat diese Partei vor den Wahlen ins Rampenlicht gestellt, aber sie dann in keinem Bezirk unterstützt und ihr nirgendwo zum Sieg verholfen. Was bedeutet das also? Es bedeutet, dass die AKP die Hizbulkontra nicht fördert, um Wahlen zu gewinnen und eine Macht zu werden, sondern um freie Kurdinnen und Kurden und die PKK anzugreifen und die kurdische Einheit zu brechen. Dieser Ansatz entspricht der kolonialistisch-genozidalen Mentalität und Politik der AKP gegenüber allen Kurden. Das sollten vor allem diejenigen verstehen, die behaupten, kurdische Nationalisten oder Muslime zu sein.
Kommen wir zurück zur Realität der CHP unter der Führung von Özgür Özel. Zweifellos ist der Sieg bei den Kommunalwahlen ein wichtiger Erfolg für die CHP und insbesondere für Özgür Özel, der erst seit einem knappen halben Jahr Parteivorsitzender ist. Einen solchen Erfolg hat die CHP bisher nur einmal erlebt. Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1923 hatte Bülent Ecevit 1973 einen ähnlichen Erfolg. Jetzt, fünfzig Jahre nach Ecevits Sieg, hat Özgür Özel die Partei zum Sieg geführt. Ecevit übernahm 1972 den Parteivorsitz von İsmet İnönü und gewann ein Jahr später die Wahlen. Özgür Özel hat das Amt 2023 von Kemal Kılıçdaroğlu übernommen und ebenfalls im folgenden Jahr Wahlen gewonnen.
Wichtig ist hier, was die CHP unter Özgür Özel jetzt tun wird. Wird die neue CHP wirklich eine Partei für wahre Demokraten aller Ideologien sein, wie Özgür Özel in seiner ersten Rede nach der Wahl erklärte, oder wird sie die derzeitige faschistisch-kolonialistische Mentalität und Politik unter demokratischer Rhetorik beibehalten? Wird sie sich auf die engen nationalistischen Prinzipien der Republiksgründung stützen, oder wird sie eine demokratische Partei werden, die alle einschließt? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für die CHP, sondern auch für die gesamte Türkei von Bedeutung. Es sei darauf hingewiesen, dass die CHP unter Ecevit nicht erfolgreich war und die Türkei nicht demokratisieren konnte, weil sie ihre nationalistischen Grundsätze nicht überwinden konnte. Tayyip Erdoğan ist der am längsten amtierende Herrscher der Republik Türkei, aber er konnte nicht zu einem neuen Gründer werden, weil er an seiner antikurdischen Mentalität und Politik festgehalten hat.
Wird Özgür Özel nun wirklich eine demokratische Persönlichkeit sein, wie er behauptet? Wird es ihm gelingen, die monistische, nationalistische CHP in eine wirklich demokratische Partei zu verwandeln? Wird es ihm gelingen, sie zu einer Partei zu machen, die die von ihr begründete Republik demokratisiert? Es ist klar, dass die Türkei genau das braucht, nämlich eine längst überfällige Demokratisierung. Wenn das gelingt, kann die CHP eine neue Zukunft schaffen und die kommenden Entwicklungen prägen. Wenn Özgür Özel die CHP nicht demokratisieren kann, wird er den Begriff Demokratie wie seine Vorgänger nur für Demogagie verwenden.
Zweifellos hat die Demokratisierung der Türkei viele Dimensionen. Der Kernpunkt des Demokratisierungsbedarfs auf wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher, kultureller und mentaler Ebene ist eine politische Lösung der kurdischen Frage, indem die antikurdische Mentalität und Politik verändert wird. Natürlich kann dieses Problem nicht auf einmal und im Alleingang gelöst werden, aber es kann eine schrittweise Lösung herbeigeführt werden. Man kann zum Beispiel damit beginnen, sich offen gegen den Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden auszusprechen, der die wichtigste Ursache für alle Krisen in der Türkei ist, insbesondere für die Wirtschaftskrise. Man kann gegen das ungesetzliche Isolationssystem auf Imrali Position beziehen. Man kann sich nicht nur gegen die eigene Unterdrückung wehren, sondern auch offen gegen die Unterdrückung des kurdischen Volkes und der demokratischen Politik durch den AKP/MHP-Faschismus aussprechen. Man kann offene Beziehungen und Diskussionen mit allen demokratischen Institutionen und Organisationen, insbesondere mit kurdischen Institutionen, aufnehmen.
Kurz gesagt, für die CHP unter Özgür Özel hat eine neue Phase begonnen und sie steht vor einer schweren Prüfung. Sie kann vorgezogene Wahlen auf die Tagesordnung setzen und einen Regierungswechsel anstreben, aber sie kann in ihrer derzeitigen Situation auch wichtige Demokratisierungsschritte unternehmen. Sie kann eine neue Mentalität und ein neues Programm vorlegen, das eine vollständige Demokratisierung der hundertjährigen Republik vorsieht. Wenn sie das tut, wird sie die Unterstützung der Kurdinnen und Kurden und aller demokratischen Kräfte finden. Dazu darf sie nicht zögern, sondern muss schnell handeln. Andernfalls wird sie den durch die Wahlergebnisse vom 31. März geschaffenen Demokratisierungskredit verlieren und eine schlimme Situation erleben, die einer Totgeburt ähnelt.
Quelle: Yeni Özgür Politika