Reportage aus Iran: Für unsere Zukunft werden wir nicht zurückweichen

Seit über zwei Monaten sind die Menschen in Rojhilat und Iran auf der Straße. Im sechsten Teil seiner Reportage berichtet Abdurrahman Gök über die Proteste in der kurdischen Stadt Bokan.

Die Einwohner:innen von Bokan wehren sich seit zwei Monaten gegen die Kräfte des Regimes der Islamischen Republik Iran. Obwohl in den letzten zwei Wochen elf Menschen aus Bokan von der Polizei getötet wurden, weicht hier niemand zurück. Ein Bürger aus Bokan, der selbst verwundet wurde, sagt: „Unser ganzes Bestreben ist es, zu verhindern, dass unsere Kinder die Verfolgung erleben, die wir erlebt haben.”

Bokan gilt im Vergleich zu vielen Städten in Rojhilat und Iran als junge Stadt. Mit rund 350.000 Einwohner:innen, einschließlich des Stadtzentrums und der Dörfer, ist Bokan eine Region, die aufgrund ihrer entwickelten Industrie und Landwirtschaft auch Zuwanderung aus den Nachbarstädten erhält. Die Stadt liegt 185 Kilometer von Ûrmiye (Urmia), 204 Kilometer von Täbris und 649 Kilometer von Teheran entfernt. Bokan ist eine der wichtigsten und einflussreichsten Städte in sozialer, kultureller, sportlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht und verfügt über ein hohes Bildungsniveau. Hier befindet sich auch das Grab des Sängers Hesen Zîrek, und die Stadt spielt eine führende Rolle bei den seit zwei Monaten andauernden Protesten. Bis zum 15. November hatten die Regimekräfte ein großes Militäraufgebot in Bokan stationiert. Die Bevölkerung ging daraufhin auf die Straße und protestierte gegen die Gewalt.

Zwischen dem 16. und 21. November verloren Milad Maroufi, Saman Qaderbeygi, Mohammad Hassanzadeh, Asad Rahimi, Salar Mojawer, Ghafoor Moloudi, Hajar Mam Khosravi, Hiwa Jan Jan, Amjad Enayati, Mustafa Shabani und Shahriar Mohammadi ihr Leben. Die Regimekräfte griffen die Menschen, die das Rathaus und einige Regierungsbüros mit Steinen bewarfen, mit Schusswaffen an. Auch in Bokan kommt es immer wieder zu Hausdurchsuchungen, bei denen Hunderte von Menschen festgenommen, verletzt und entführt werden sollen. Die Bevölkerung erklärt jedoch, dass sie sich gegen die Angriffe wehren wird. Die Ladenbesitzer haben ihre Geschäfte fast eine Woche lang nicht geöffnet.

Die erste Parole rief ein Jugendlicher


Zagros Bokan (sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert), der während der ersten Proteste in Bokan fast bewusstlos geschlagen wurde und nur durch die Bemühungen der Bevölkerung einer Verhaftung entkam, erklärt, dass er die erlebte Gewalt nie vergessen und diesem Regime nicht verzeihen wird. Er sagt, dass die ersten Proteste in Bokan am Tag nach der Beerdigung von Jina Amini in Seqiz (Saqqez) begannen: „Es war einen Tag nach dem Tod von Jina. Die Menschen begannen, in Bokan auf die Straße zu gehen. Auch wir gingen als junge Leute auf die Straße. Die Menschen waren einfach auf der Straße. Es gab keine Parolen, keine Demonstration. Direkt vor uns standen Polizisten, die nicht aus Bokan kamen. Sie waren als Verstärkung aus Bonab und Täbris gekommen. Aber es gab auch Bewaffnete aus Bokan, die wir als Jahsh bezeichnen. Ein etwa 16-jähriger Junge schlich sich von uns weg, stellte sich vor die Regimekräfte und rief ,Jin, Jiyan, Azadî'. Die Polizisten aus Täbris und Bonab taten nichts, vielleicht weil sie nicht ganz verstanden, was er sagte. Einer der kurdischen Polizisten nahm den Kopf des Jungen unter seinen Arm und schlug zu. Zusammen mit einem Freund von mir versuchte ich, ihn aus ihren Händen zu retten. Dann ist die Situation eskaliert. Es war natürlich sehr schwierig, ihnen den Jungen zu entreißen, denn einerseits setzten sie Schlagstöcke ein und andererseits versuchten sie, ihn in den Krankenwagen zu zerren, den sie als Polizeifahrzeug benutzten. Ich konnte es nicht mehr ertragen und versuchte mit aller Kraft, ihn zu befreien. Es gelang mir, den Jungen zu retten, er konnte weglaufen, aber jetzt fiel ich ihnen in die Hände.”

Schläge bis zur Bewusstlosigkeit

Zagros Bokan sagt, er habe versucht, sich gegen die Schlagstöcke, Tritte und Gewehrkolben zu wehren, die ihn am ganzen Körper trafen, aber mit dem letzten elektrischen Schock konnte er sich nicht mehr bewegen. Er wurde zu Hause behandelt und nicht in einem Krankenhaus, um nicht in Gewahrsam genommen zu werden. „Ich konnte nicht glauben, dass ich nach all den Schlägen noch am Leben bin. Ich habe mich immer noch nicht erholt”, erzählt Zagros. Er hat noch immer blaue Flecken und zeigt Fotos von den Spuren der Gewalt, der er ausgesetzt war.

Wir retten eine freiere Zukunft

Als ich Zagros frage, warum er den Jungen retten wollte, obwohl er sich damit selbst in Gefahr brachte, antwortet er: „Als sie anfingen, ihn zu schlagen, fühlte ich mich, als ob sie mein Kind schlagen würden. Er ging auf die Straße, weil er Kurde war und Freiheit forderte. Ich ging mit denselben Gefühlen hinaus. Ich konnte mich nicht beherrschen. Schauen Sie, alle unsere gefallenen Freunde wurden getötet, weil sie für diejenigen auf die Straße gingen, die vor ihnen fielen, und niemand macht einen Schritt zurück. Ja, ein 15-jähriger Junge ist heißblütig. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Mut dieses Jungen meinen Mut bei weitem übertrifft. Keiner von uns wagte es, Parolen zu rufen, aber dieser Junge rief als erster ,Jin Jiyan Azadî'. Deshalb musste ich ihn beschützen und aus den Händen der Polizei befreien. Selbst wenn ich in diesem Moment getötet worden wäre, wäre es für mich eine große Ehre gewesen, weil ich verhindert habe, dass der Junge in die Hände dieser Unterdrücker fällt. Ich denke also, dass ich eine Zukunft mit einer Idee gerettet habe, die viel freier ist als meine. Und wenn ich dann mit meinen Freunden spreche, sagen alle dasselbe. Wenn unsere Generation so mutig gewesen wäre wie die heutige, sähe heute alles ganz anders aus.”


Auf meine Frage, was passiert wäre, wenn der Junge festgenommen worden wäre, gibt Zagros folgende Antwort: „Sehen Sie, Hunderte von Menschen werden hier während der Proteste und bei anschließenden Hausdurchsuchungen festgenommen. Die Festsetzung kann hier manchmal mehr als zwei Monate betragen. Und der Staat bestreitet die Festnahmen sogar häufig. Die Eltern können nicht einmal die Namen ihrer inhaftierten Kinder preisgeben, weil sie bedroht werden. Es gibt auch Familien, die sich dem Druck des Staates beugen, weil sie denken, dass ihre Angehörigen dann vielleicht früher entlassen werden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Regimekräfte sind sehr brutal. Ich kenne viele Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden. Wenn sie erzählen, was sie durchgemacht haben, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Wenn der Junge damals in den Krankenwagen gebracht worden wäre (die Polizei benutzt Krankenwagen als Gefangenentransporter), können wir uns gar nicht vorstellen, was mit ihm passiert wäre. Ist Jina nicht auf diese Weise getötet worden?”

Unser Blut wird seit Jahrzehnten vergossen

Zagros Bokan sagt, dass er 36 Jahre alt ist und bereits Schlimmeres erlebt hat als das, was Jina widerfahren ist: „Unser Blut wird in dieser Gegend seit Jahrzehnten vergossen. Wir werden verfolgt und unterdrückt. Wir können unseren Kindern keine kurdischen Namen geben, wir können in den Schulen keinen Unterricht in unserer Muttersprache erhalten. Unsere Geschwister, die Rechte fordern, werden hingerichtet. Jina ist jedoch zu einem Symbol geworden. Unser ganzes Ziel ist es, zu verhindern, dass junge Menschen die Verfolgung erleben, die wir erlebt haben, und Hunderte von Menschen haben in den letzten zwei Monaten ihr Leben für diese Sache verloren.”

Der Protest richtet sich gegen die Erniedrigung

Zagros erinnert an die Proteste, die 2009 und 2019 in Iran stattgefunden haben: „Damals verlangten die Menschen Arbeit und Nahrung und wehrten sich dagegen, von der steigenden Inflation und den Lebenshaltungskosten erdrückt zu werden. Diese Proteste richteten sich gegen die Erniedrigung von Menschen, denn wenn man die Würde eines Menschen mit Füßen tritt, bleibt von diesem Menschen nichts mehr übrig. Diesmal habe ich Hoffnung, denn alle Iraner:innen wissen jetzt, dass ihre Persönlichkeit mit Füßen getreten wird. Der Widerspruch richtet sich hier nicht nur gegen die Zwangsverschleierung, sondern auch gegen die Gestaltung und Prägung unseres Lebens. Stellen Sie sich vor, dass Menschen mit einer so tief verwurzelten Kultur und Tradition sich schämen, überhaupt zu sagen, dass sie Iraner:innen sind. Aus diesem Grund hoffen die iranischen Völker, dass sie das Land wieder übernehmen können. Wir glauben auch, dass die neue Generation mit dieser Rebellion aufatmen kann. Zumindest kann sie in einem freieren, besser entwickelten und fortschrittlicheren Land leben.”

Ich kann nicht zuhause sitzen, während Menschen getötet werden“


Als ich Zagros frage, was ihn motiviert, trotz all dieser Erfahrungen und dem Tod vieler Menschen an diesen Protesten teilzunehmen, sagt er: „Das Wichtigste für einen Menschen ist die Würde. Ich kann die Schande nicht hinnehmen, zu Hause zu sitzen, während Menschen auf den Straßen getötet werden. Wenn ich hundertmal mehr erlebe als das, was mir passiert ist, werde ich immer noch auf die Straße gehen und meine Würde verteidigen. Wenn ich meine Kinder nicht so erziehen kann, wie ich es möchte, wenn ich sie nicht nach draußen bringen kann, weil ich Angst habe, jeden Moment erschossen zu werden, dann wäre der Tod dieser Sache wert.”

Wir werden unsere Freiheit durch Jin und Jiyan erreichen


Gefragt nach dem Grund für die Ausbreitung von „Jin Jiyan Azadî”, antwortet Zagros: „Eigentlich drückt diese Parole ein Bewusstsein aus, das in Rojhilat schon seit vielen Jahren besteht. Die Vorreiterrolle der Frauen in Rojhilat reicht weit zurück. Selbst wenn wir die jüngere Geschichte betrachten, können wir diese in der Republik Kurdistan, die in Mahabad ausgerufen wurde, erkennen. Wir haben immer mit Neid auf die von Frauen angeführten Revolutionen in Bakur und Rojava geschaut, und oft bekam ich eine Gänsehaut vor Aufregung, wenn ich sie sah. Wir hoffen und glauben, dass diese Führung auch in Rojhilat ihrer Geschichte gerecht werden wird. Die Menschen in Bokan glauben jetzt daran, dass sie ihre Freiheit (Azadî) mit Frauen (Jin) und Leben (Jiyan) erreichen können.”


Abdurrahman Gök ist Fotoreporter und auch international für seine journalistische Arbeit bekannt, unter anderem für seiner Bilder der im August 2014 vor dem Genozid des selbsternannten IS ins Şengal-Gebirge geflohenen ezidischen Bevölkerung. Außerdem erfuhr die Öffentlichkeit nur dank seines Einsatzes, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im März 2017 am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, von der Polizei nur erfunden wurde.

Im Original erschien der sechste Teil der Reportage über die Reise in den Iran am 30. November. Die deutschsprachigen Übersetzungen der ersten fünf Teile sind unter nachfolgenden Links zu lesen: