Reportage aus Iran: Frauen durchbrechen die Mauer der Angst

Seit über zwei Monaten sind die Menschen in Rojhilat und Iran auf der Straße. Abdurrahman Gök berichtet im vierten Teil seiner Reportage von den Frauen und Schülerinnen in Mahabad.

Der Journalist Abdurrahman Gök berichtet für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) seit einigen Tagen aus Iran und Rojhilat (Ostkurdistan) über die aktuelle Situation. Im vierten Teil seiner Reportage vom 28. November schreibt er:

Der seit zwei Monaten andauernde Aufstand und die Forderungen, die Gegenstand dieser Proteste sind, sind in Mahabad in aller Munde. Nach meinen Interviews mit Universitätsstudierenden, Jugendlichen und Gewerbetreibenden wende ich mich nun an Frauen und Schüler:innen, die Teil der ersten Protesten in der Stadt waren. Ich möchte erfahren, warum sie an diesen Protesten teilgenommen haben, und ihre Geschichten und Forderungen hören. Während ich mit den protestierenden Frauen spreche, wird mir klar, dass sie mehr und größere Gründe haben als alle anderen.

Ein mutiges „Jin Jiyan Azadî“

Ich spreche mit zwei Frauen, die an den vor etwa zwei Monaten in Mahabad begonnenen Protesten teilgenommen haben und hier zum ersten Mal den Slogan „Jin Jiyan Azadî“ skandierten. Eine Frau, die mir ihren Namen verraten hat, F., beschreibt ihre erste Teilnahme an einer Demonstration und ihre Aufregung mit den folgenden Worten: „Ich sah eine Gruppe junger Männer, die sich auf der Azadî-Straße, einem der belebtesten Punkte im Stadtzentrum, versammelten und ,Kurd û Kurdistan Goristana Faşîstan‘ (Kurdistan wird das Grab des Faschismus sein) skandierten. Ich hatte meine Tochter bei mir. Trotzdem nahm ich meinen Mut zusammen und ging sofort auf sie zu, schaute nach links und rechts und skandierte mit leiser Stimme ,Jin Jiyan Azadî‘. Als ich es ein zweites Mal wiederholte, sah ich drei Leute, die mich auslachten. Diesmal erhob ich meine Stimme etwas lauter, und jedes Mal merkte ich, dass ich etwas mutiger wurde und meine Stimme kräftiger wurde. Nach kurzer Zeit sah ich, dass die Zahl der jungen Leute, die an der Demonstration teilnahmen, zunahm, und einige weitere Frauen kamen auf mich zu und skandierten dieselbe Parole mit mir. Ich merkte, dass die Angst, die mich anfangs ergriffen hatte, verschwunden war. Die jungen Leute riefen ,Kurd û Kurdistan Goristana Faşîstan‘, und die Frauen legten aus Protest gegen die Zwangsverschleierung ihre Kopftücher ab und skandierten ,Jin Jiyan Azadî‘.“

Als ich F. frage, wann sie den Slogan zum ersten Mal hörte, sagte sie, dass sie die Worte „Jin Jiyan Azadî“ zum ersten Mal am Ende eines Briefes sah, den ihr ihre Tochter, die fast so alt ist wie Jina Amini, hinterlassen hat: „Vor drei Jahren, als meine Tochter an der Kunstfakultät der Al-Zahra-Universität in Teheran studierte, schloss sie sich der Guerilla an und hinterließ einen Brief. Am Ende ihres Briefes schrieb sie ,Jin Jiyan Azadi‘. Natürlich hatte dieser Slogan für mich damals keine große Bedeutung. Als ich jedoch hörte, dass dieselbe Parole am Grab von Jina Amini gerufen wurde, erkannte ich, dass das Ziel, für das meine Tochter die Universität verlassen hatte, kein leeres Ziel war. Als ich zum ersten Mal eine Demonstration in Mahabad sah, ergriff ich die erste Gelegenheit, die sich mir bot, und schloss mich sofort den Jugendlichen an, um die Parole zu rufen, die meine Tochter vor drei Jahren unter ihren Brief geschrieben hatte.“

Tochter als Vorbild

F. sagt, dass sie ihre Tochter gut erzogen hat und dass sie als Individuum keine Probleme hinsichtlich der Freiheit hatte. „Ich hatte meine Tochter als freies Individuum erzogen, sie hatte keine Defizite und studierte an einer guten Universität in einem Fachbereich, den sie mochte. Sie war jedoch erschüttert, als sie die Unterdrückung der Frauen um sich herum sah. Das war es, was sie dazu brachte, sich dem Kampf anzuschließen. Denn manchmal, wenn wir uns unterhielten, sagte sie: ,Meine Freiheit bedeutet nichts, wenn nur eine Frau unfrei ist.‘ Meine Tochter war eine sensible Frau. Sie war in Teheran, als Kobanê vom IS belagert wurde, und eines Tages rief sie mich an und sagte: ,Mama, morgen findet in Mahabad eine Demonstration für Kobanê statt und du solltest daran teilnehmen.‘ Später lud ich ein Video herunter, das ich in den sozialen Medien über die Demonstration in Mahabad gesehen hatte, und schickte es meiner Tochter. Sie sagte: ,Ich habe das Video gesehen. Ich möchte, dass du mir ein Video schickst, in dem du auch zu sehen bist.‘ Als ich dann Jahre später sah, wie junge Leute in Mahabad Parolen für Jina riefen, dachte ich an meine Tochter und schloss mich der Demonstration an.“

Revolutionäre Frauen

Mit Blick auf Kubra Sheikh Saqa, eine der am 27. Oktober getöteten Zivilist:innen, sagt F.: „Kubra war eine revolutionäre Frau. Sie und ihr Sohn hatten an diesem Tag an der Demonstration für Simko teilgenommen. Sie wurde direkt ins Visier genommen und zusammen mit ihrem Sohn getötet. Sie wurde auf dem Platz der Mullah-Moschee erschossen. Dann wurde ihr Leichnam in die Saedi-Moschee gebracht, wo ein junger Mann die Sirûda Şoreşgerî (Revolutionshymne) über den Moscheelautsprecher spielte. Der Imam wollte natürlich keine Erlaubnis erteilen, aber der Jugendliche sagte: ,Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Kubra erschossen wurde. Sie ist eine Gefallene.‘ Und er spielte die Hymne über den Lautsprecher. Danach wurde die Menschenmenge vor der Moschee immer größer. Von dieser Moschee bis zum Friedhof marschierten die Menschen etwa sieben Kilometer weit, trugen Kubras Sarg auf den Schultern und riefen ,Jin Jiyan Azadî‘. Diese Frau, die zerquetscht und mit Füßen getreten werden sollte, war nun eine revolutionäre Vorreiterin und wurde auf den Schultern von Zehntausenden in die Ewigkeit geschickt.“

D., eine 17-jährige Schülerin, die bis zu diesem Moment geschwiegen hat, sagt lachend: „Ich bin diejenige, deren Kopf verletzt und deren Blut bei den Protesten vergossen wurde, aber mich fragst du gar nichts.“ Auch die anderen im Raum beginnen zu lachen. Ich weiß nicht, dass diese 17-jährige Gymnasiastin, die durch ihre Aufregung auffällt, die Tochter von F. ist, und frage F.: „Was hat dich und diese 17-jährige Jugendliche bei der ersten Demonstration, an der du teilgenommen hast, zusammengebracht?“ F. antwortet: „Sie ist meine Tochter.“

Wir werden unsere Freiheit bekommen“

Und ihre Tochter D. lacht und beginnt enthusiastisch zu erzählen: „Die Menschen, die an den Protesten teilnehmen, sind sehr aufgeregt. Stellen Sie sich vor, Sie werden direkt beschossen, aber niemand weicht zurück. Eine Frau namens Kubra wurde während der Proteste in Mahabad festgenommen. Sie war eine Frau, die die Proteste anführte. Sie war eine Widerständlerin. Eine der mit ihr Verhafteten wurde in den letzten Tagen freigelassen, und sie erzählte uns, dass Kubra in der Haft den gleichen Widerstand leistete und nicht nachgab. Aus diesem Grund brachten sie Kubra an einen anderen Ort, damit sie den anderen Häftlinge nicht Mut machen kann. Aber egal was sie tun, wir werden nicht mehr nachgeben und wir werden unsere Freiheit bekommen.“


S., eine Mutter von drei Kindern, deren Mann neun Jahre lang Peschmerga war, ist eine der Frauen, die an jeder Demonstration teilnehmen, von denen sie hören. Sie erzählt, dass ihre beiden Töchter geheiratet haben und sie mit ihrem 28-jährigen unverheirateten Sohn und ihrem Mann zusammenlebt. S. lacht und sagt: „Mein Mann denkt, dass er seinen Teil dazu beigetragen hat, weil er neun Jahren bei den Peschmerga war, also hat er sich bisher nicht an den Protesten beteiligt. Aber ich nehme an jeder Demonstration teil.“ Inzwische kenne die Polizei sie und sie werde hin und wieder angesprochen: „Wenn mich die Polizei fragt: ,Worauf wartest du?‘, sage ich: ,Ich warte auf das, worauf ihr wartet.‘ Natürlich erfahre ich Zeit und Ort der Demonstrationen von meinen Freundinnen, die mich anrufen. In diesem Moment lege ich meine Arbeit beiseite. Eine Stunde vor Beginn gehe ich zum Ort der Demonstration und sehe mich um; ich stelle fest, wo die Regimekräfte stehen, damit wir Vorkehrungen treffen können. Denn die meisten von ihnen sind in Zivilkleidung. Bei einem Protest warfen junge Leute Steine auf die Polizei. Die Polizei griff mit Gasbomben ein. Ich hatte nicht die Kraft, Steine zu werfen. Stattdessen klopfte ich sofort an die Türen der umliegenden Häuser und sammelte eine Menge Zigaretten ein. Ich zündete diese Zigaretten an und blies den Rauch in die Augen der vom Gas betroffenen Jugendlichen. So konnten die Jugendlichen ihre Augen offen halten.“

So habe ich meine Angst überwunden


Als ich S. frage, ob sie keine Angst hat, verhaftet, getötet oder verletzt zu werden, beschreibt sie den Tag, an dem sie die Angst beiseite schob: „Es gibt einen Ort namens Memba in Mahabad, wir haben uns dort zu einer Demonstration versammelt, aber es war noch niemand da. Dann wurde geschossen und ein junger Mann wurde durch Kugeln verwundet. Zwei Männer trugen den Verwundeten an Händen und Füßen weg. Die Sicherheitskräfte waren zu viele, sie nahmen einen anderen jungen Mann zwischen sich und begannen, ihn mit Schlagstöcken zu verprügeln. Ich hielt es nicht mehr aus, stürzte mich auf den Jungen und schrie: ,Er ist mein Sohn, ihr werdet ihn umbringen!‘ Sie schlugen auch auf mich ein, zogen mich an den Armen und warfen mich auf den Boden. In diesem Moment habe ich alle meine Ängste überwunden. Ich habe keine Angst mehr davor, verhaftet, verletzt oder getötet zu werden. In Iran können Personen, die wegen bestimmter Anschuldigungen verhaftet werden, gegen Zahlung von 100 Millionen Rial auf Kaution freigelassen werden. Ich habe meinem Mann und meinen Kindern auferlegt, dass sie, selbst wenn ich verhaftet werde, die Kaution nicht an diesen mörderischen Staat zahlen sollen.“


S. betont, es gehe ihr nicht nur um die Abschaffung der Zwangsverschleierung, sondern auch um die geistige Freiheit, für die sie sich weiterhin einsetzen werde.

Da die Universitäten geschlossen sind, möchte ich mit einer Schülerin des größten Gymnasiums der Stadt sprechen. Ich spreche mit V., einer Schülerin der zwölften Klasse des Fatima-Mädchengymnasiums, das 400 Schülerinnen hat. V. sagt, sie habe während der Proteste für Jina Amini den Slogan „Jin Jiyan Azadî“ gehört. „Natürlich haben wir nach und nach mit unseren Freundinnen darüber diskutiert, und wir haben angefangen, diese Parole nach der Schule zu skandieren. Wir haben auch selbst einige erfunden. Zum Beispiel sagt die Gascht-e Erschad [Sittenpolizei] ,hêz‘ (unmoralisch) und ,herzê‘ (unehrenhaft) für Frauen mit unbedecktem Kopf. Dagegen singen wir ,Hêz tu yî herzê tu yî jînê azad min im‘ (Du bist der Unmoralische und Unehrenhafte, ich bin eine freie Frau). In letzter Zeit wurde versucht, die Parole ,Patriotischer Mann‘ gegen ,Jin Jiyan Azadî‘ zu stellen. Natürlich wird dies von einigen Gruppen getan, die sich selbst als Opposition bezeichnen, und diese Gruppen wollen, dass der Schah wieder an die Macht kommt. Das steht jedoch nicht auf unserer Agenda, auch die Studierenden, die Jugend und das Volk wollen etwas anderes. Gegen diejenigen, die das wollen, sagen wir sowohl in unseren Schulen als auch bei Demonstrationen: ,Merg ber sîtemger çi şah baş e çi rehber‘ (Tod den Kolonisatoren, sei es der Schah oder der Führer).“

Schule wird boykottiert

Auf meine Frage nach der Haltung ihrer Lehrer:innen und der Schulverwaltung ihnen gegenüber sagt V., dass viele Lehrer:innen sie bedrohten und versuchten, sie einzuschüchtern, indem sie sie bei der Polizei und den Geheimdiensten melden: „Seit dem Tag, an dem wir die Proteste an unserer Schule unterstützt haben, warten Polizeibeamte vor unserer Schule. Aber das hat uns nicht aufgehalten.“ V. erklärt auch, dass sie auf das harte Vorgehen der Polizei mit einem zeitweiligen Schulboykott reagierten. Sie selbst gehe seit einer Woche nicht mehr zur Schule.

V. sagt, dass zwei ihrer Freund:innen während einer der Proteste verhaftet wurden und dass einer von ihnen nach einiger Zeit wieder freigelassen wurde, aber ihr Freund Aran seit mehr als 45 Tagen in Ûrmiye inhaftiert ist.


Keine Gesellschaft kann frei sein, solange die Frauen nicht frei sind"

Als ich V. nach dem Zweck der Proteste und ihren Zielen frage, sagt sie: „Wir sind sehr froh, dass der Slogan ,Jin Jiyan Azadî‘ so weit verbreitet ist. Wir wollen Freiheit. Wir glauben, dass die Gesellschaft ohne die Befreiung der Frauen nicht frei sein kann. Denn die ersten Unterdrückten in der Geschichte sind die Frauen. Keine Gesellschaft kann frei sein, solange die Frauen nicht frei sind.“ Auf die Frage, ob ihre Freund:innen so denken wie sie, antwortet sie: „Keiner meiner Freund:innen hat eine sektiererische oder sexistische Einstellung zu diesem Thema. Natürlich sind manche Familien dagegen, dass ihre Kinder so denken. Sie sind sogar dagegen, dass sich männliche und weibliche Schüler:innen treffen. Aber Kinder und Jugendliche hören nicht auf ihre Familien.“

Weiter erklärt V., dass sie die Filmarbeit in Bakur und Rojava aufmerksam verfolge und nach dem Abitur ein Filmstudium absolvieren und Rojava besuchen wolle. Als unser Gespräch weitergeht, schreibt V.s Bruder, ein Grundschüler der dritten Klasse, „Jin Jiyan Azadî“ an eine Tafel und zeigt es mir. Dann zeigt er mir seine Schulbücher. Ich sehe, dass alle Fotos von Khomeini auf der ersten Seite der Bücher herausgerissen worden sind.

Im Iran werden männliche und weibliche Schüler:innen – außer in den Dörfern – von der Grundschule bis zur Universität in getrennten Klassenräumen unterrichtet. In den Dörfern können Kinder bis zur neunten und zehnten Klasse aufgrund von Platzmangel in gemischten Klassen lernen.

In Mahabad gibt es die Universitäten Azad, Peyamnûr und Mîad. Die Studierenden an diesen Universitäten stammen aus der Region. Da diese seit Beginn der Proteste geschlossen sind, gibt es keine Aktivitäten an den Universitäten in Mahabad. In großen Städten wie Sine (Sanandadsch), dem Verwaltungszentrum der Provinz Kurdistan, werden die Proteste fast ausschließlich von Universitätsstudierenden angeführt.


Abdurrahman Gök ist Fotoreporter und auch international für seine journalistische Arbeit bekannt, unter anderem für seiner Bilder der im August 2014 vor dem Genozid des selbsternannten IS ins Şengal-Gebirge geflohenen ezidischen Bevölkerung. Außerdem erfuhr die Öffentlichkeit nur dank seines Einsatzes, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im März 2017 am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, von der Polizei nur erfunden wurde.

Im Original erschien der vierte Teil der Reportage über die Reise in den Iran am 28. November. Die deutschsprachigen Übersetzungen der ersten drei Teile sind unter nachfolgenden Links zu lesen: