Kommentar: Ein „Bruderkrieg” in Südkurdistan?

Für einen Bruderkrieg in Südkurdistan müsste es einen Machtkampf zwischen zwei kurdischen Parteien geben. Da die PDK im Schulterschluss mit dem Aggressor Türkei ist, ist es nicht die PKK, die zur Vernunft aufgerufen werden sollte, kommentiert Meral Çiçek.

“îro roja şî’ir nîn e

bo wê ye, ez ji bo we dibêjim

bi zimanekî yekcar sade

ji we re dibêjim

ewê kurd be û kurd bikuje

pîç e, teres e, qewad e!” (1)

Als der Dichter Ebdulla Peşêw aus der südkurdischen Stadt Hewlêr (Erbil) diese Zeilen verfasste, floss in den Straßen seiner Heimatstadt das Blut seiner kurdischen Mitmenschen. Es war Mai 1994. Ein innerkurdischer Krieg, ein Bürgerkrieg hatte soeben begonnen. Während der ersten Gefechte dieses Krieges starben 300 Menschen. Im weiteren Verlauf des Jahres stieg diese Zahl auf 2.000 Tote an.

Dieses Mal waren es nicht die staatlichen irakischen „Sicherheitskräfte”, die Massaker begingen. Es war ausnahmsweise nicht das Baath-Regime, an dessen Händen aufgrund von Massakern wie in Helebce (Halabdscha) 1988 kurdisches Blut klebte. Dieser neue Krieg fand zwischen Kurdinnen und Kurden statt. Kurden töteten Kurden. Für die Macht. Auf der einen Seite stand die PDK (Demokratische Partei Kurdistans), und auf der anderen die YNK (Patriotische Union Kurdistans).

Dieser Krieg, der als „Bruderkrieg” in der Erinnerung der Bevölkerung zurück blieb, dauerte mehr als drei Jahre. Tausende Menschen verloren ihr Leben. Zehntausende wurden aus ihren Häusern vertrieben, mussten ihre Städte verlassen. Viele von ihnen sind bis heute nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Andere wollten zurückkehren, konnten es jedoch nicht.

1998 - Kurden schütteln sich unter US-Vermittlung die Hände

Am 24. Dezember 1997 wurde ein Waffenstillstand verkündet. Im September 1998 unterzeichnete man ein offizielles Friedensabkommen. In Washington. Die Kurdinnen und Kurden schüttelten sich unter US-amerikanischer „Vermittlung” die Hände, teilten die Macht miteinander und beendeten den Bürgerkrieg.

Als Gegenleistung verlangte die USA zwei Dinge: Die Garantie der südkurdischen Kräfte, das Vordringen irakischer Regimekräfte nach Südkurdistan nicht zuzulassen und das Ende der PKK-Präsenz in der Region. Die darauf folgenden Ereignisse kennen wir. Nicht einmal einen Monat später wurde grünes Licht gegeben und das internationale Komplott vom 9. Oktober (2) offiziell eingeleitet. Zwei kurdische Organisationen waren zum Preis der Zerschlagung einer dritten miteinander versöhnt worden. Als Resultat dessen wird der Vorsitzende Abdullah Öcalan seit fast 22 Jahren auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali unter Einsatz von Isolationshaft und Folter gefangen gehalten.

Neben den Vereinigten Staaten war es die Türkei, die am stärksten von den Gefechten zwischen den südkurdischen Kräften 1994 bis 1997 profitierte. Die Türkei hat stets jeglichen noch so kleinsten Widerspruch oder Konflikt zwischen Kurdinnen und Kurden als Gelegenheit für eine Intervention genutzt. Auch die „Operation Stahl” (türk.: „Çelik Harekatı”) des türkischen Militärs, die von März bis Mai 1994 in Südkurdistan andauerte, fand auf genau dieser Grundlage statt.

Das Wort „Bruderkrieg” bezeichnet den Mord an den eigenen Geschwistern. Also Bürgerkrieg. Der von 1994 bis 1997 andauernde Krieg in Südkurdistan war genau das: ein Bürgerkrieg. Er wurde zwischen zwei kurdischen Organisationen ausgetragen. In diesem Krieg nahmen die kurdischen Organisationen zwar die Hilfe von regionalen Staaten (Irak und Iran) in Anspruch, doch den Krieg selbst fochten Kurdinnen und Kurden unter sich aus. Es war ein Bruderkrieg.

1983 - Bemühungen der PKK für innerkurdische Einheit

Doch dieser Bruderkrieg begann nicht im Jahr 1994. Schon zuvor hatten Widersprüche zwischen kurdischen Organisationen bestanden und es war immer wieder zu Gefechten gekommen – sowohl in Südkurdistan, als auch in den anderen Teilen Kurdistans. In Anbetracht dieser Lage unterzeichnete die PKK 1983 ein Abkommen mit der PDK. 1988 folgte ein Weiteres mit der YNK. Unter Leitung von Mehmet Karasungur, damaliges Mitglied des PKK-Zentralkomitees, wurden Bemühungen unternommen, um eine demokratische, nationale Einheit der kurdischen Kräfte aufzubauen. Unter großem Einsatz wurde versucht, den Bruderkrieg zu beenden, der den Kurdinnen und Kurden in gewisser Weise von Anfang an als eine Art Schicksal aufgezwungen worden war.

Es wäre falsch, die aktuellen Entwicklungen in Kurdistan und die damit einhergehende akute Gefahr, in der wir uns befinden, als Bruderkrieg zu bezeichnen. Denn dieses Mal sind es keine Geschwister, die sich gegenseitig töten. Die Widersprüche und Konflikte finden nicht zwischen zwei kurdischen Organisationen statt. Bei dem aktuellen Krieg handelt es sich um einen Konflikt zwischen der Türkei – ein Staat, der eine Besatzungs- und Völkermordpolitik verfolgt – und der kurdischen Freiheitsbewegung. Die PDK bezieht in diesem Krieg nicht Position an der Seite der kurdischen Organisation, sondern befindet sich im Schulterschluss mit dem Angreifer, der Türkei. Um das zu verschleiern, versucht die PDK aktuell den Eindruck zu erwecken, die Guerilla hätte den südkurdischen Peschmerga (3) den Krieg erklärt. Dabei beteiligen sich die Peschmerga gar nicht an dem türkischen Besatzungskrieg, der von der kurdischen PDK unterstützt wird. Es sind nicht die Peschmerga, sondern Spezialkräfte der PDK, besser gesagt der Barzanî-Familie, die derzeit südkurdische Guerillagebiete wie Gare und Heftanîn umzingeln.

Friedensaufrufe an beide Seiten haben keinen Sinn

Würde es sich tatsächlich um einen Bruderkrieg handeln, würde also ein Machtkampf zwischen zwei kurdischen Organisationen stattfinden, dann hätten Friedensaufrufe an beide Seiten durchaus Sinn. Doch handelt es sich bei der aktuellen Situation um etwas anderes. Während die eine Seite immer wieder dazu aufruft, nicht auf die Pläne der kolonialistischen und imperialistischen Kräfte reinzufallen, ist die andere Seite entschlossen, an der Seite genau dieser Kräfte zu stehen. In dieser Situation ist eindeutig, welche Seite dazu aufgerufen werden muss, zu verhindern, dass wieder Kurdinnen und Kurden das Blut ihrer kurdischen Geschwister vergießen.

Meral Çiçek studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während ihres Studiums begann sie, als Korrespondentin und Redakteurin für die einzige kurdische Tageszeitung in Europa Yeni Özgür Politika zu arbeiten, für die sie heute eine wöchentliche Kolumne schreibt. 2014 gründete sie mit anderen Frauen das Kurdish Women's Relations Office (REPAK) in Silêmanî, dessen Vorsitzende sie ist. Außerdem ist sie Mitglied der Redaktion des dreimonatlich erscheinenden Magazins Jineolojî (kurd. „Wissenschaft der Frau”). Der hier veröffentlichte Artikel erschien erstmals am 10. November 2020 auf Türkisch.


Anmerkungen:

1 dt. Übersetzung: „Heute ist kein Tag für Gedichte/ deshalb sage ich euch/ mit klaren, eindeutigen Worten/ ich sage euch/ der Kurde, der Kurden tötet/ ist ein Bastard, Halunke und Zuhälter!“

2 Am 9. Oktober 1998 verließ Abdullah Öcalan Syrien, wo er sich knapp 20 Jahre aufgehalten hatte. Der türkische Generalstabschef hatte zuvor mit einem Einmarsch in Syrien gedroht, sollte Öcalan das Land nicht verlassen. Es folgte ein monatelanger Exodus, der Öcalan unter anderem nach Griechenland, Russland und Italien führte. Am 15. Februar 1999 wurde er in der kenianischen Hauptstadt Nairobi festgenommen und der Türkei ausgeliefert. Für seine rechtswidrige Entführung und Inhaftierung werden insbesondere die USA, England und Israel verantwortlich gemacht.

3  Als Peschmerga werden die offiziellen Verteidigungskräfte der Autonomen Region Kurdistan bezeichnet.