Murat Karayilan, Generalkommandant des Volksverteidigungszentrums, hat im ANF-Interview Fragen zum Kampf der kurdischen Guerilla und zu den militärischen und politischen Auswirkungen der letzten Angriffe auf die türkischen Besatzungstruppen im Süden Kurdistans beantwortet.
In letzter Zeit erleben die revolutionären Operationen der Freiheitsguerilla Kurdistans einen Aufschwung. Die letzte einer Reihe von Aktionen in verschiedenen Regionen war die nach dem gefallenen Kämpfer Helmet Dêreluk benannte Operation am Girê Amêdî in der westlichen Zap-Region. Was lässt sich über die Entwicklung des wachsenden Widerstands der Guerilla sagen?
Der Krieg und die stattfindenden Aktionen sind das Ergebnis der absoluten Isolierung unserer Führung durch das AKP/MHP-Regime, der Unterdrückung der demokratischen Politik, des Genozids an unserem Volk und der Angriffe gegen unsere Bewegung mit dem Ziel der totalen Vernichtung seit neun Jahren. Mit diesen Angriffen wollte das Regime unser Volk einschüchtern und unsere Bewegung vollständig zerstören. Sie dachten, sie könnten uns gestützt auf Geheimdienst und Technologie mit Hilfe ausländischer Mächte und kurdischer Kollaborateure liquidieren. Dafür haben sie in diesem Krieg alle Reichtümer der Türkei und ihre geopolitische Position als Verhandlungsmasse eingesetzt. Sie wollten Ergebnisse erzielen, indem sie einen erheblichen Teil der ökonomischen Mittel der Türkei für diesen Krieg ausgaben. Doch trotz all dieser Bemühungen und verschiedener umfassender und vielschichtiger Angriffe sind sie gescheitert.
Die Aktionen der Guerilla sind der Beweis dafür. Dieser Prozess begann mit der Fedai-Aktion in Ankara am 1. Oktober und erreichte mit den Aktionen am 20. und 27. November, am 22. und 23. Dezember und zuletzt am 10. und 12. Januar seinen Höhepunkt. Es gab sehr wichtige Aktionen an diesen Tagen, aber auch viele große und kleine Aktionen, die in diesem Zeitraum stattfanden. Es handelt sich um eine Bewegung, eine Antwort der Guerilla gegen die Politik der Isolation und des Völkermords. Die revolutionäre Operation am Girê Amêdî war ein großer Erfolg mit bewundernswerten Leistungen aller Art. Man kann auch sagen, dass es die erfolgreichste Aktion seit der „Çiçek Kıçi“-Operation 2011 in Çelê (tr. Çukurca) war.
Ende 2022 verkündete der damalige türkische Kriegsminister den Abschluss der Operation Claw Lock und erklärte den Sieg über die Guerilla. Was bedeuten die Guerillaaktionen, die in demselben Gebiet trotz des erklärten Sieges stattfinden?
Nachdem der türkische Staat im Herbst 2016 mit Hilfe von NATO und Gladio Drohnentechnologie erwerben konnte, erklärte der damalige Innenminister im April 2017, dass niemand mehr von der PKK sprechen würde. Sie verließen sich stark auf die externe Unterstützung und die Technologie, die sie erworben hatten. Sie machten den Fehler zu denken, dass sie die kurdische Frage, die im Wesentlichen ein soziales Problem ist, mit dieser Technik und Geheimdienstinformationen lösen könnten.
Mit dem am 10. Februar 2021 in Gare gestarteten Angriff wollten sie die Medya-Verteidigungsgebiete innerhalb von zwei bis drei Monaten vollständig eliminieren, nachdem sie mit dem Irak und der PDK verhandelt und deren Unterstützung erhalten hatten. Doch die Kalkulation ging nicht auf. Während sie planten, den Krieg in drei Monaten zu beenden, sitzen sie seit drei Jahren in Zap, Avaşîn und Metîna fest und kommen nicht weiter.
Dass sie die Dimension dieses Krieges vor den Menschen und dem öffentlichen Diskurs in der Türkei verbergen, ist eine Tatsache. Es stimmt, dass Hulusi Akar im Herbst 2022 eine Art Sieg verkündete, indem er erklärte, dass die Operation sich dem Ende nähert und das „Klauenschloss“ zugeschnappt sei. Das war angesichts der Realität eine große Unverfrorenheit, denn einen solchen Erfolg oder Sieg gibt es nicht.
Die revolutionäre Bewegung, die mit der Aktion in Ankara begann und mit der letzten Aktion in Girê Amêdî ihren Höhepunkt erreichte, hat alle Lügen entlarvt, die den Völkern der Türkei und der Weltöffentlichkeit im Rahmen der psychologischen Kriegsführung aufgetischt wurden. Diese Aktionen haben die Realität der letzten drei Jahre in dem großen Widerstandes offenbart, der seit neun Jahren gegen den Völkermord an der Bevölkerung Kurdistans geleistet wird. Sie beweisen den Zusammenbruch des Kollapsplans [tr. Çöktürme Planı], eines Völkermordprojekts, in das die faschistische AKP/MHP-Regierung große Hoffnungen gesetzt hat. Der historische Widerstand der vergangenen neun Jahre und die letzte Mobilisierungsphase, vom Kerker über die Straße bis in die Berge, haben zu dieser Realität geführt. Das kurdische Volk hat gezeigt, dass es einen Willen hat und angesichts der faschistisch-genozidalen Angriffe nie und nimmer zurückweichen wird.
Wie ist das von der Guerilla erreichte Niveau zu bewerten? Welche militärischen und politischen Botschaften sind damit verbunden?
Diese Aktionen haben die Richtigkeit der Kriegsdoktrin, die wir als HPG entwickelt haben, in militärischer Hinsicht bewiesen und den Grad des Erfolgs offenbart. Der wichtigste Aspekt einer Kriegsstrategie ist es, mit wenig Verlusten große Erfolge zu erzielen. Besonders in den letzten drei Jahren hat die taktische Expansion der Freiheitsguerilla Kurdistans diese Tatsache deutlich gezeigt. In der Praxis ist deutlich zu sehen, dass der Stil, große Ergebnisse mit wenigen Verlusten zu erzielen, erreicht wurde. In dieser Hinsicht sind die Erklärungen der türkischen staatlichen Institutionen über unsere Verluste völlig unsinnig; sie sind Lügen, die darauf abzielen, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Wir verfolgen den taktischen Ansatz, wichtige Ergebnisse mit minimalen Verlusten zu erzielen und sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Andere Verluste haben wir nicht. Man kann also von einer wichtigen Leistung in militärischer Hinsicht sprechen.
In politischer Hinsicht ist die wichtigste Botschaft dieses Widerstands die ideologische und militärische Performance der PKK und der Freiheitsguerilla Kurdistans. Es ist die Demonstration der Unbesiegbarkeit einer Kraft, die eine starke Entschlossenheit sowie ideologische und militärische Haltung zeigt. Sie hat dem Kolonialismus die Botschaft vermittelt, dass man mit Massakern und Morden keine Ergebnisse erzielen kann, ganz gleich, wie viel externe Unterstützung und technische Mittel man einsetzt. Es ist die Botschaft, dass das kurdische Volk, eines der ältesten Völker der Region, das ständig mit Terrorismus gleichgesetzt wird und in Wirklichkeit in den Tiefen der Geschichte verwurzelt ist, nicht mit Gewalt beseitigt werden kann. Man kann das älteste Volk dieser Gegend nicht ignorieren und es mit Gewalt vernichten. Das haben der Widerstand und die jüngsten Aktionen einmal mehr gezeigt.
Glauben Sie, dass die andere Seite diese Botschaft wahrnimmt und einen Politikwechsel herbeiführen wird?
Die Wahrscheinlichkeit, dass die andere Seite diese Botschaft richtig wahrnimmt, scheint im Moment sehr gering zu sein. Sie haben die Botschaft zwar erhalten, aber sie werden auf ihrer Linie beharren; das zeigen auch ihre Äußerungen. Die AKP ist der klientelistisches MHP und einigen faschistisch-rassistischen Ergenekonisten gefolgt und mit einem skrupellosen Krieg gegen das kurdische Volk zur grausamsten Regierung aller Zeiten geworden. Indem sie den gesamten Reichtum der Türkei in diesen Krieg investiert, hat sie die Gesellschaft der Türkei in Hunger und Armut gestürzt. Wenn es so weitergeht, werden die Medya-Verteidigungsgebiete das Grab dieser faschistischen Mentalität sein. Das ist eine sichere Tatsache. Es handelt sich nicht um eine einfache Behauptung. Angesichts unserer Kampfstrategie ist das Scheitern dieser engstirnigen Mentalität sicher. Sie versteht nur Blutvergießen und glaubt, den Willen der Völker durch Töten ausschalten zu können. Niemand kann unser widerständiges Volk ignorieren, unsere Mütter, die für Freiheit kämpfenden Frauen, unsere Jugend und die linke und sozialistische Tradition aus der Türkei. Man kann eine gesellschaftliche Realität, in der es Helden wie Rojhat und Erdal gibt, die ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn es nötig ist, nicht mit Gewalt beseitigen.
Auf der einen Seite machen der türkische Staat und seine speziellen Kriegsmedien ständig Propaganda, dass Ihre Bewegung erledigt ist.
Ja, es gab eine gewisse Belastung für unsere Kräfte angesichts der mit NATO-Unterstützung zur Verfügung gestellten technologischen Mittel und der zunehmenden nachrichtendienstlichen Möglichkeiten in diesem Zusammenhang. Angesichts der auf fortgeschrittener Technologie basierenden Angriffe in Nordkurdistan, vor allem in der Zeit von 2017 bis 18, strebten wir eine schnelle Transformation in Bezug auf Taktik und Aktionsstil an. Wir haben jedoch erkannt, dass wir den Aktionsstil, der der Zeit angemessen war, nicht frühzeitig mit einer radikalen Veränderung umsetzen konnten, weil wir an Gewohnheiten festhielten, die wir auch als strukturelle Persönlichkeitsmerkmale in der kurdischen Gesellschaft und der kurdischen Menschentypologie bezeichnen können. Unter diesem Gesichtspunkt kamen wir zu dem Schluss, dass schnell eine Reihe von grundlegenden Veränderungen in Stil, Methode und Bewegung erfolgen muss.
Zum Beispiel haben wir seit 2018 als taktischen Ansatz festgelegt, die Kräfte in Nordkurdistan zu reduzieren oder nicht zu erhöhen und nicht zu viel Verstärkung nach Nordkurdistan zu schicken, und wir haben es auf diese Weise umgesetzt. Einige Leute im kolonialen System, die auf Karriere und Profit aus waren, wollten daraus Gewinn schlagen und haben versucht, es als ihren eigenen Erfolg darzustellen. Das ist ein anderes Thema; es ist ihre eigene Einfalt und Selbsttäuschung. Ein große Kriegstheoretiker, der deutsche General Clausewitz, vergleicht den Krieg mit dem Handel und stellt fest, dass in Kriegen Schritte unternommen werden sollten, indem Gewinn und Verlust berechnet werden. Dieses Thema wird auch in der Korrespondenz zwischen Marx und Engels erwähnt. Krieg ist also auch eine Situation, die nach Gewinn und Verlust geplant werden muss. Als wir also erkannten, dass unsere Verluste zunehmen würden, solange wir unseren Kurs nicht änderten, nahmen wir das natürlich zum Anlass, nicht zu viele Kräfte in Richtung Norden zu lenken. Aber sie betrachteten es als ihren eigenen Erfolg und führten ihre Umgebung und die Gesellschaft in die Irre. Diesem Irrglauben sind sie immer noch aufgesessen. Wenn der Tag kommt, werden alle erkennen, dass dies nicht der Fall ist.
Sicher ist jedoch, dass die PKK keine Schwächung in ihrem Kampf im Sinne von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] erfahren hat, sondern eine Reifung, und sie wird ihre Unbesiegbarkeit demonstrieren, indem sie es, wenn nötig, verstärkt im Kriegsgebiet zeigt. In dieser Hinsicht sollte niemand mehr Geschichten glauben, die auf Lügen basieren. Wir sind ein Volk, das in keiner Weise und nirgends vernichtet worden ist; wir können nicht vernichtet werden. Das kann niemand erreichen. Es ist möglich, die jüngsten Aktionen der Guerilla auf diese Weise zu lesen. Man kann sehen, dass sie eine Kraft mit einem unbesiegbaren stählernen Willen und einer hohen Manövrierfähigkeit ist und dass sie die Fähigkeit hat, sich zu schützen und ihre Aufgaben angesichts aller Arten von Angriffen zu erfüllen. Und wer das heute nicht sehen will, wird es morgen sehen müssen.
Das Interview wurde für die deutsche Fassung gekürzt und redigiert.