Bayik: Der türkische Staat ist in Panik geraten

Der türkische Staat will mit den Angriffen auf Rojava die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstören und die Menschen zur Flucht bewegen, um dieses Gebiet zu besetzen und zu übernehmen. Dafür will Erdoğan auch den IS wieder aktivieren.

Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des KCK-Exekutivrats, hat in einem auf Stêrk TV ausgestrahlten Interview die aktuellen Entwicklungen in Kurdistan und im Nahen Osten bewertet. Wir dokumentieren den ersten Teil des Interviews in deutscher Übersetzung.


Die Isolierung und Folterung von Abdullah Öcalan geht weiter. Warum und wie verfolgt der türkische Staat diese Politik der Isolation? Wie bewerten Sie die Entwicklungen der weltweiten Kampagne für seine Freilassung und eine politische Lösung der kurdischen Frage?

Die absolute Isolation und Folter gegen Rêber Apo [Abdullah Öcalan] dauern an. Obwohl es viele Aktivitäten dagegen gibt, beharrt der völkermordende türkische Besatzungsstaat auf seiner Politik. Unser Kampf gegen diese Politik ist zu schwach und der türkische Staat schöpft daraus Mut. Einige andere Staaten unterstützen den türkischen Staat für ihre eigenen Interessen, auch davon profitiert die AKP/MHP-Regierung.

Unser Kampf hat die AKP/MHP an den Rand der Zerstörung gebracht. Um ihre Macht zu erhalten, betreiben sie eine Politik der Leugnung. Ihrer Meinung nach gibt es keine Kurdinnen und Kurden und keine kurdische Frage. Sie betrachten alle, die von der kurdischen Frage sprechen, als Kriminelle. Die Mentalität des türkischen Staates hat sich nicht geändert. Es ist eine Mentalität, die darauf besteht, dass die kurdische Frage mit Gewalt und Krieg gelöst wird. Das ist im Wesentlichen die Mentalität der MHP. Die MHP ist keine Partei, sie ist eine Konterguerillaorganisation, die die PKK liquidieren und damit den Genozid am kurdischen Volk vollenden will. Rêber Apo, das kurdische Volk und seine internationalen Freundinnen und Freunde stehen gegen diese Politik, sie leisten Widerstand und kämpfen. Wir müssen betonen, dass diese staatsfeindliche Politik nicht nur gegen die Kurdinnen und Kurden, sondern auch gegen alle anderen demokratischen und sozialistischen Kräfte betrieben wird. Die Regierung will ein eigenes Regime in der Türkei errichten. In diesem Regime wird es keine Kurdinnen und Kurden, keine Aleviten, keine Demokraten oder Sozialisten geben. Alle sollen sich diesem Regime unterordnen.

Die Menschen suchen nach einer Alternative zum bestehenden System

Das Ziel der weltweiten Kampagne ist es, die physische Freiheit von Rêber Apo zu gewährleisten und die kurdische Frage mit demokratischen Mitteln zu lösen. Trotz aller Unzulänglichkeiten hat die Kampagne bereits gute Ergebnisse erzielt. Sie ist zu einem heißen Thema geworden, und die internationale Unterstützung für Rêber Apo und sein Paradigma wächst von Tag zu Tag. Das kapitalistische System übt großen Druck auf die Menschheit aus und ist die Quelle großer Zerstörung innerhalb der Gesellschaft. Das ist überall sichtbar. Deshalb wird auch nach einer Alternative zu diesem System gesucht. Die von uns entwickelte Kampagne ist wie eine Medizin für die Völker. Die Menschen haben erkannt, dass sie ihre Probleme lösen können, wenn sie das von Rêber Apo entwickelte System der demokratischen Moderne als Grundlage gegen das kapitalistische System nehmen. Rêber Apo sagte einmal: „Wo auch immer meine Gefängnisschriften sind, ich bin dort." Auch wenn er sich physisch auf der Gefängnisinsel Imrali befindet, ist er eine international anerkannte Führungspersönlichkeit, die jeden Tag mehr und mehr Anhänger findet.

Rêber Apo ist ein freier Mensch, obwohl er auf Imrali inhaftiert ist und gefoltert wird. Das hat er durch seine Ideen, seine Philosophie und seinen Kampf erreicht. Er hat der Menschheit sein Paradigma vorgestellt, und die Menschheit hat dadurch eine große Waffe im Kampf um eine Alternative erhalten. In diesem Sinne können wir sagen, dass die erste Phase der globalen Kampagne erfolgreich war. Jetzt geht es darum, die nächste Stufe zu entwickeln. Deshalb müssen die Aktionen verändert werden. Wenn keine neuen Arten von Maßnahmen ergriffen werden, wird die Kampagne keine überzeugenden Ergebnisse bringen. Es müssen stärkere, andere Aktionen durchgeführt werden, Millionen müssen marschieren. Diese Aktionen müssen sowohl auf globaler Ebene als auch direkt auf den türkischen Staat einwirken. Dann wird die AKP/MHP nicht mehr lange weitermachen können. Unser Volk und unsere internationalen Freundinnen und Freunde sollten diese Tatsache begreifen.

Über die Guerilla wird in den türkischen Medien nicht viel berichtet, aber die jüngsten Aktionen sind auf der Tagesordnung und haben den türkischen Staat und das AKP/MHP-Regime erschüttert. Wie haben sich die Aktionen der letzten Zeit auf die Gesellschaft und die Politik in der Türkei und in Kurdistan ausgewirkt?

Rêber Apo, die Guerilla und das kurdische Volk haben einen großen Einfluss auf die Politik. Der türkische Staat und die Regierung haben immer propagiert, die PKK sei vernichtet worden. Aber als die Guerilla starke Aktionen durchführte, erschütterten diese Aktionen den türkischen Staat und die AKP/MHP-Regierung. Die jahrelange Propaganda wurde sowohl in der Türkei als auch auf der internationalen Bühne zunichte gemacht. Alle haben gesehen, dass diese Propaganda aus Lügen besteht. Die Ergebnisse der jüngsten Aktionen haben einmal mehr das wahre Gesicht des türkischen Staates und der Regierung gezeigt. Deshalb ist der türkische Staat in Panik geraten. Sie überlegen, wie sie die Auswirkungen dieser Aktionen neutralisieren können. Sie verhaften so viele Menschen wie möglich, bombardieren die Gebiete der Guerilla und führen schwere Angriffe durch, insbesondere gegen Rojava [Westkurdistan/Nordsyrien]. Auf diese Weise versuchen sie zu zeigen, dass sie stark sind, dass sie noch stehen. Sie wollen damit ihre Schwäche zu verbergen.

Wohin schickt ihr diese Soldaten, für wen schickt ihr sie?“

Die Menschen in der Türkei sollten der AKP/MHP-Regierung einige Fragen stellen. Sie sollten fragen: „Wohin schickt ihr diese Soldaten, für wen schickt ihr sie?“ Sie sollten die Gründe dafür erforschen. Wenn türkische Soldaten sterben, ist Erdoğan die Ursache. Alle sollten dafür von Erdoğan und der MHP Rechenschaft einfordern und fragen: „Warum schickt ihr unsere Kinder nach Südkurdistan, was machen sie dort? Das hat nichts mit der Verteidigung der Grenze zu tun. Es hat nichts mit der Verteidigung der Türkei, der türkischen Gesellschaft zu tun. Ihr wollt eure eigenen politischen Ziele erreichen, deshalb schickt ihr unsere Kinder in den Krieg und lasst sie töten."

Erdoğan und Bahçeli sind voll verantwortlich für die getöteten Soldaten. Die Menschen müssen das sehen. Wenn in der Türkei alles teurer geworden ist, sollten sie den Grund dafür untersuchen. Sie sollten untersuchen, warum die türkische Währung Tag für Tag an Wert verliert, die Wirtschaft am Boden liegt und das Leben der Menschen gefährdet wird. Der Grund dafür ist der von der AKP/MHP geführte Krieg.

Die Türkei steuert auf den Untergang zu

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um die so genannten Dorfschützer aufzufordern, nicht der Politik des Völkermords zu dienen, sondern sich dagegen zu stellen. Auch die Peschmerga der PDK sollten kein Instrument für diese Politik sein. Sie sollten sich von den Stützpunkten des türkischen Staates fernhalten und sie nicht unterstützen. Das ist es, was von ihnen verlangt wird. Es sieht so aus, als ob die Guerilla den Kampf weiter verstärken wird. Sowohl der türkische Staat als auch die AKP/MHP-Regierung sollten wissen, dass sie auf diese Weise keine Ergebnisse erzielen können. Die Kurdinnen und Kurden werden ihren Kampf für Demokratie und Freiheit fortsetzen. Die türkische Regierung muss dies begreifen. Sie muss die Politik des Völkermords, der Leugnung, der Vernichtung, der Isolierung, der Folter und der Besatzung aufgeben. Wenn sie es nicht tut, wird es große Gefahren für die Türkei mit sich bringen. Erdoğan mag die Wahlen gewonnen haben, aber die Türkei steuert auf den Untergang zu. Die Türkei hat keine Freunde mehr, sie ist allein.

Wie Sie schon sagten, greift der türkische Staat jedes Mal Rojava an, wenn er von der Guerilla getroffen wird. Manchmal wird sogar behauptet, dass die Guerilla aus Rojava kommt und Aktionen durchführt. Was sind die Gründe dafür und wie ist das zu verstehen?

Der türkische Staat betreibt eine psychologische Kriegsführung. Die AKP/MHP-Regierung beharrt auf der Politik des Völkermordes. Alle wissen, dass die stattgefundenen Aktionen nichts mit Rojava zu tun haben. Aber um die Öffentlichkeit zu täuschen und die Angriffe auf Rojava zu legitimieren, behauptet die türkische Regierung, dass die Kämpfer und ihre Waffen aus Rojava kommen. Sie sagen sogar, dass die USA sie ausgebildet, ihnen Waffen gegeben und geschickt hat. Andernfalls, so sagen sie, wären die Kurden nicht in der Lage, mitten im Winter anzugreifen. Denn sie sehen die Kurdinnen und Kurden als einfach. Sie sehen sie nicht als eine Gesellschaft. Sie sehen sie als diejenigen, die vernichtet werden müssen. Deshalb sagen sie, dass die Kurdinnen und Kurden nicht in der Lage sind, einen solchen Krieg zu führen. Das Ziel des türkischen Staates und der AKP/MHP ist es, Rojava zu vernichten. Das bringen sie offen zum Ausdruck. Der dritte Weltkrieg ist bereits im Gange, und das wollen sie ausnutzen. Sie wollen die Revolution von Rojava auslöschen und einen Völkermord an den Menschen begehen.

Die Lebensgrundlagen in Rojava sollen zerstört werden

Sie wollen ganz Rojava besetzen, wie sie es in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî getan haben. In den besetzten Regionen werden Islamisten angesiedelt und in jeder Hinsicht unterstützt. Mit diesen dschihadistischen Banden soll Nord- und Ostsyrien vollständig besetzt werden. Aus diesem Grund greifen sie Rojava an. Sie zielen auf die Stromversorgung, auf das Trinkwasser, auf Kraftwerke, Krankenhäuser, Getreidefelder. Mit anderen Worten: Sie bombardieren die Infrastruktur der Menschen in Rojava. Das ist für alle sichtbar. Sie sagen, sie greifen die YPG/QSD an, aber das ist eine komplette Lüge. Der türkische Staat will mit diesen Angriffen die Lebensgrundlagen in Rojava zerstören und die Menschen zur Flucht bewegen, um dieses Gebiet zu besetzen und zu übernehmen. Das ist das Ziel des türkischen Staates. Unser Volk muss sich dem entschlossen und mutig entgegenstellen. Niemand sollte auswandern, niemand sollte sein Land, seine Stadt, sein Dorf oder sein Haus verlassen. Denn wenn du gehst, folgst du dem Willen des türkischen Staates. Wenn du gehst, hast du keine Chance, zurückzukehren. Efrîn, Serêkaniyê, Girê Spî liegen vor unseren Augen. Unser Volk kann nur überleben, wenn es sich wehrt und kämpft. Es darf keinen anderen Weg vorziehen und muss mit allen Mitteln gegen die Brutalität des türkischen Staates kämpfen. Das ist sein Recht. Unser Volk muss seine Selbstverteidigung ausbauen.

Hinnahme der Barbarei

Ich möchte auch einen Aufruf an einige Staaten richten: Russland, die USA, die Koalitionsstreitkräfte schweigen zu diesen Angriffen. In Rojava werden die Lebensgrundlagen der Bevölkerung bombardiert, es gibt kein Wasser, keinen Strom, keine Krankenhäuser, aber diese Staaten geben keinen Ton von sich. Das wird als Hinnahme der Barbarei verstanden. Sie sind Partner des türkischen Staates. Auch dagegen muss unser Volk aufstehen. Die Menschen müssen die Koalition fragen: „Was macht ihr hier, betreibt ihr die Politik des türkischen Staates oder seid ihr für eure eigenen Zwecke hier? Ihr macht Politik auf Kosten des kurdischen Volkes, ihr opfert die Kurdinnen und Kurden für eure Zwecke, das akzeptieren wir nicht." Sie müssen ihre Haltung deutlich machen.

Erdoğan will den IS wieder aktivieren

Bekanntlich war IS auf dem Weg nach Damaskus, als Erdoğan ihn nach Kobanê dirigierte. Erdoğan ist derjenige, der den IS lenkt. Das haben auch IS-Mitglieder zum Ausdruck gebracht; sie sagten, sie seien auf dem Weg nach Damaskus gewesen, aber dann wurde die Richtung nach Kobanê geändert. Der türkische Staat hat den IS komplett gegen das kurdische Volk eingesetzt. Sie wollten mit dem IS einen Schlag gegen das kurdische Volk ausführen. Doch als sich die Bevölkerung den Islamisten entschlossen und mutig entgegenstellte, erkannte Erdoğan, dass er mit dem IS nicht gegen die Kurdinnen und Kurden antreten konnte. Deshalb ist der türkische Staat selbst in Rojava eingefallen. In der Geschichte unserer Bewegung gab es viele Momente, in denen Faschisten gegen uns mobilisiert wurden, auch einige Stämme wurden gegen uns eingesetzt. Immer, wenn sie merkten, dass es nicht funktioniert, haben sie ihre eigenen Kräfte mobilisiert. Jetzt will Erdoğan den IS wieder aktivieren, um etwas in Nord- und Ostsyrien zu erreichen.