Karasu: Erdoğan geht es nicht um Palästina

Mustafa Karasu (KCK) hat sich im TV-Sender Medya Haber zur Gründung der PKK vor 45 Jahren, dem Krieg in Kurdistan und der Positionierung der Türkei im Palästina-Israel-Konflikt geäußert.

Mustafa Karasu, Mitglied im Exekutivrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) hat sich im TV-Sender Medya Haber zu aktuellen Themen geäußert, darunter die Gründung der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) vor 45 Jahren, der Krieg in Kurdistan und die Positionierung der Türkei im Palästina-Israel-Konflikt. Wir dokumentieren einen Ausschnitt des ausführlichen Interviews in deutscher Übersetzung:

Wir nähern uns jetzt dem 27. November, dem Gründungstag der PKK im Jahr 1978. Was hat sich seit Beginn dieses Kampfes verändert, wenn man die Zeit damals und heute betrachtet? Welche wichtigen Entscheidungen wurden bei der Gründung dieser Partei getroffen?

Zunächst möchte ich Rêber Apo [Abdullah Öcalan] und unser Volk zu diesem Anlass beglückwünschen und mit Dankbarkeit und Respekt an unsere Gefallenen erinnern. Der Gründer dieser Partei ist Rêber Apo. Er hat von niemandem eine Organisation übernommen und keine Gelegenheit geerbt. Er hat nur an sich selbst geglaubt und gesehen, dass das kurdische Volk kolonisiert wurde. Er sah, dass es einem Völkermord ausgesetzt war. Er fühlte mit großer Wut den Kampf eines Volkes, das ermordet werden sollte, er fühlte den Schmerz dieses Völkermordes, und mit dieser Wut und dieser Verantwortung nahm er den Kampf auf. Deshalb sagte er: „Kurdistan ist eine Kolonie." Er sagte auch: :Kurdistan soll zu einem Expansionsgebiet für das Türkentum gemacht werden." Er sagte, man wolle die Kurden vernichten, und mit dieser Analyse begann er den Kampf.

Wir, wir alle, waren mit Rêber Apo einverstanden. Wir stimmten mit seinem Denken überein. Wer auch immer sich dieser Bewegung anschließt, schließt sich den Ideen, Methoden und der Führung von Rêber Apo an. Das ist ein wichtiger Aspekt. Die Organisation der ersten Gruppe begann von diesem Punkt an. Sie entstand durch die Bildung eines Willens und einer entsprechenden Haltung und Persönlichkeit. Das war vor allem das Verdienst von Rêber Apo und ist der Grund, warum die PKK immer mit ihm in Verbindung gebracht wird. Rêber Apo vertrat diese Idee auch durch sein eigenes Handeln. Er handelte nach dem, was er sagte und dachte. Weil er lebte und kämpfte wie er sagte und dachte, scharte sich eine Gruppe um ihn. Seitdem ist sie gewachsen und zu dem geworden, was sie heute ist. Insofern kann man die PKK nicht definieren oder verstehen, ohne Rêber Apo zu definieren und zu verstehen. Es besteht eine enge Wechselbeziehung im Denken und Verständnis.

Es gibt verschiedene Parteien und Organisationen, die von Zeit zu Zeit zersplittert, gespalten, hierhin und dorthin verlagert worden sind, aber bei der PKK ist das nicht möglich. Denn die PKK ist seit ihrer Gründung von der Persönlichkeit, der Identität und dem Geist von Rêber Apo geprägt. Insofern ist es nicht möglich, eine PKK zu schaffen, die losgelöst von seinen Gedanken ist, die sich von seinen Gedanken, von seiner Politik unterscheidet, oder die PKK anders zu verstehen.

Rêber Apo hat die Menschen erreicht, seine Ideen haben sich in der ganzen Welt verbreitet, und obwohl der Feind sich sehr bemüht hat, konnte er ihn nicht von den Menschen trennen. Er hat nicht nur die Organisation geformt, er hat auch das kurdische Volk aus seiner Asche neu erschaffen. Die Tatsache, dass dieses Volk bis heute Widerstand leistet, ist ebenfalls auf diese Realität zurückzuführen. Im Geist und in der Haltung des Volkes zeigen sich die Realität und der Einfluss von Rêber Apo. Unser Volk überlebt trotz allen Drucks, es lebt weiter und wird weiter überleben. Das Gleiche gilt auch für die Bewegung. Sie mögen die PKK auf jede erdenkliche Weise angreifen, aber sie werden niemals in der Lage sein, den Geist, die Haltung, die Idee und den Willen dieses Kampfes zu brechen.

Als Rêber Apo diesen Kampf begonnen hat, tat er es in einer sozialistischen Tradition. Er versuchte, ein sozialistischer Anführer für sein Volk zu werden, denn das war am Anfang das Potential, das er im kurdischen Volk sah. Auf dem Weg zur Freiheit schien der Sozialismus immer ein wesentlicher Bestandteil zu sein und war für das kurdische Volk notwendig. Es war nicht möglich, den Weg der Freiheit ohne den Sozialismus zu beschreiten. In der Realität des kurdischen Volkes kann es keine andere Ideologie geben, um die eigene Nation innerhalb Kurdistans zu schützen, denn es wurde in vier Teile geteilt. In Regionen, die von ausländischen Hegemonialmächten mit Hilfe von Kollaborateuren beherrscht werden. Es ist nicht einfach, im Nahen Osten einen Freiheitskampf im Namen des Volkes zu schaffen. Ein Freiheitskampf, ein erfolgreicher Freiheitskampf im Nahen Osten ist nur möglich, wenn er auf Sozialismus, auf der Geschwisterlichkeit der verschiedenen Völker und auf einem gemeinsamen Kampf der demokratischen Kräfte beruht.

In den 1990er Jahren, als der Realsozialismus zusammenbrach und die Sowjetunion sich auflöste, sagte Rêber Apo: „Auf dem Sozialismus zu bestehen, heißt, auf dem Menschsein zu bestehen." Wir haben auf dem Kampf für die Freiheit dieses Volkes bestanden, indem wir auf dem Sozialismus bestanden haben. Man kann nicht Mensch sein, ohne Sozialist zu sein. Rêber Apo ist der größte Sozialist der Weltgeschichte geworden. Ohne die Freiheit der Frauen kann es keinen Sozialismus geben. Auf der Grundlage dieses Verständnisses ist Rêber Apo heute ein Pionier des Sozialismus. Auf der Grundlage der drei von ihm geschaffenen Säulen - Freiheit der Frau, soziale Ökologie und demokratische Gesellschaft - wird seine Philosophie rund um den Globus verbreitet.

Während die Welt über den Krieg in Gaza spricht, geht auch der Krieg in Kurdistan weiter. Was können Sie uns über den Verlauf des Krieges sagen?

Seit Februar 2021 herrscht in den Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan ein umfassender Krieg. Seitdem hat die türkische Armee alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, sowohl in Bezug auf die Technologie als auch in Bezug auf ihre Beziehungen zu internationalen Mächten und zu lokalen kurdischen Kollaborateuren, aber sie war bis heute nicht erfolgreich. Sie führen den Krieg schon so lange, und trotzdem sind sie nicht erfolgreich. Ja, sie haben Stellungen auf einigen Berggipfeln errichtet, aber sie sind isoliert und können ihre Umgebung nicht kontrollieren, weil es viele Tunnel gibt, die in den letzten Jahren durch die intensive Arbeit unserer Genossinnen und Genossen dort gebaut wurden. Einerseits kämpft die Guerilla gegen den Feind, andererseits arbeitet sie weiter an der Erweiterung der Tunnels. Sie antwortet auf die Angriffe der türkischen Armee mit der Taktik mobiler Teams im Gelände. Diese Teams sind ein sehr wichtiger Teil des Widerstands.

Auch im Gazastreifen wird ein großer Tunnelkrieg geführt. In Kurdistan wird ein solcher Krieg seit drei Jahren gegen den türkischen Staat geführt, aber es hat nie einen internationalen Aufschrei über den Einsatz von Giftgas und chemischen Waffen durch die türkische Armee gegeben. Alle haben geschwiegen. Im Moment gibt es überall auf der Welt Proteste, die den Krieg Israels anprangern. Gleichzeitig schweigen die internationalen Institutionen und die Öffentlichkeit zum Einsatz von Chemiewaffen durch den türkischen Staat in Kurdistan, obwohl es ständige Angriffe gibt.

Es wird gesagt, dass der Staat Israel im Gazastreifen bisher so viele Bomben eingesetzt hat, dass sie zusammen die Stärke von zwei Atombomben hätten. Man kann ohne weiteres sagen, dass der türkische Staat die zehnfache Anzahl von Bomben in den Medya-Verteidigungsgebieten eingesetzt hat. Der Krieg zwischen dem Staat Israel und der Hamas dauert seit etwa einem Monat an. Der Krieg in den Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan wird seit drei Jahren geführt, jeden Tag und ohne Unterbrechung. Noch immer gibt es einen breiten Widerstand und es sind im Wesentlichen die mobilen Einheiten, die ein weiteres Heranrücken der türkischen Armee verhindern.

Die Medya-Verteidigungsgebiete leisten Widerstand, die Menschen leisten Widerstand, und in der ganzen Türkei gibt es einen bedeutenden Widerstand. In letzter Zeit hat es einige Aktionen der Guerilla im nordkurdischen Gebiet von Serhed gegeben. Obwohl der türkische Staat an allen Fronten angreift, bleibt er weiterhin erfolglos. Er führt nun schon seit Dutzenden von Jahren einen schmutzigen Krieg und wird dabei von zahlreichen internationalen Kräften aus Europa, Amerika und der gesamten NATO unterstützt. Sie sagen, der Krieg, den die Türkei führt, falle unter das legitime Recht auf Selbstverteidigung.

Dieser Kampf und Widerstand wurde von den Menschen geführt. Er hat eine neue Realität für die Gesellschaft geschaffen, was die wichtigste Errungenschaft des Widerstands ist. Unser fortgesetzter Kampf wird den türkischen Staat brechen und auf der Grundlage eines freien kurdischen Volkes werden sich die Türkei und der Nahe Ostens demokratisieren.

Sie haben bereits den laufenden Krieg in Gaza erwähnt, wie bewertet die kurdische Freiheitsbewegung diesen Krieg? Wie analysieren Sie die Position der Türkei in diesem Krieg?

Der Krieg in Gaza wird wirklich auf eine sehr hässliche Art und Weise geführt. Was die Hamas getan hat, ist inakzeptabel, aber auch was Israel im Moment macht, ist wirklich unmenschlich. Alles brennt und wird zerstört, ohne sich um Frauen, Kinder oder ältere Menschen zu kümmern. Das ist inakzeptabel. Natürlich ist es notwendig, dagegen aufzustehen. Aber wir müssen konsequent dagegen sein. Diejenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht akzeptieren, müssen sich richtig dagegen wehren und sollten dies auch konsequent tun.

Der türkische Staat sagt, dass er auf der Seite der Palästinenser steht, aber er stellt sich hinter die Hamas. Natürlich muss der Angriff auf die palästinensische Bevölkerung bekämpft werden. Aber die vermeintliche Unterstützung Palästinas durch den türkischen Staat schwächt in Wirklichkeit die Unterstützung für den palästinensischen Kampf. Er unterstützt den palästinensischen Kampf nicht, weil es so aussieht, als stünde ein Faschist, ein Massenmörder an der Seite der Palästinenser. Das ist natürlich eine Situation, die den palästinensischen Kampf schwächt. Kann sich ein Volk, das wie die Palästinenser einen gerechten Kampf führt, auf die Seite einer faschistischen Regierung stellen? Was hat der türkische Staat in der Zeit des Widerstands für Selbstverwaltung in Nordkurdistan getan? Hat er nicht ganze Städte zerstört? Hat er nicht Nisêbîn, Cizîr, Sûr und Şirnex dem Erdboden gleichgemacht? Hat der türkische Staat nicht Menschen bei lebendigem Leib in Kellern verbrannt? Hat er nicht Frauen und Kinder auf der Straße umgebracht? Die Leichen der ermordeten Kinder wurden in Kühlschränken aufbewahrt. Jetzt geht ein solcher Staat hin und behauptet, er verteidige die Palästinenser. Dabei macht er das Gleiche. Das ist keine Unterstützung für Palästina, es wirft einen Schatten auf die palästinensische Sache. Heute tötet der israelische Staat Kinder und Frauen. Aber schauen wir uns kurz Erdoğan an. Vor ein paar Jahren sagte er: „Wir werden tun, was nötig ist, egal ob es sich um eine Frau oder ein Kind handelt." Er sagte das mit großer Wut und zeigte später, dass es nicht nur ein Spruch war. Sie töteten sowohl Frauen als auch Kinder. Hunderte und Tausende von Zivilisten wurden massakriert.

Diese Realität der AKP-Regierung muss hervorgehoben werden. Erdoğan spricht von der „Verteidigung der palästinensischen Sache". In Wirklichkeit macht er sie kaputt. Was hat Erdoğan in Rojava getan? Er hat Efrîn besetzt. 500 Menschen aus der Zivilbevölkerung sind im Widerstand gefallen, und es sind auch sehr viele Kämpferinnen und Kämpfer dieser Zeit gefallen. Wäre die Bevölkerung nicht evakuiert worden, hätte der türkische Staat ganz Efrîn dem Erdboden gleichgemacht. Das ist sicher.

Das Engagement der AKP für Palästina schwächt die palästinensische Sache, sie schwächt ihre Glaubwürdigkeit. Israel sagt ja bereits: „Wovon redest du, du tust doch selbst das Gleiche." Kann es richtig sein, dass eine Kraft, die selbst so unmoralisch ist, sich vor dich stellt? Es gibt viele Menschen und viele demokratische Kräfte, die sich für die Sache des palästinensischen Volkes einsetzen, aber die AKP-Regierung gehört nicht dazu. Sie ist nicht an der Sache des Volkes interessiert, sie verfolgt nur ihre eigenen Interessen. In Wirklichkeit will der türkische Staat auf diese Weise die Unterstützung verschiedener arabischer Mächte im Nahen Osten gewinnen und die Kurden auslöschen. Letztendlich tut Erdoğan alles, um die Kurdinnen und Kurden zu ermorden. Das sollte allen bewusst sein. Der AKP geht es nicht um Palästina. Sie sieht es als Rechtfertigung an. Sie wird alle Arten von Angriffen auf Rojava durchführen, und dann wird sie ankommen und sagen: „Diese Leute haben es getan, und ich tue es auch."

Die AKP-Regierung, der türkische Staat, lebt in der Realität eines schmutzigen Krieges. Nichts, was sie sagt, ist glaubwürdig. Es geht nicht um die Verteidigung der Völker, nicht um die Verteidigung menschlicher Werte. Es geht nur darum, sich einen politischen Vorteil zu verschaffen und die Kurden und die demokratischen Kräfte unter Druck zu setzen.