Isolation ist keine Ursache, sondern eine Antwort

Der Rechtsanwalt Faik Özgür Erol erklärt, wie die türkische Regierung einerseits auf Imrali ihr eigenes Recht bricht und andererseits die Ausnahmesituation auf der Gefängnisinsel schrittweise zum Normalzustand in der gesamten Türkei macht.

Im Gespräch mit der Journalistin Berivan Altan von der Nachrichtenagentur Mezopotamya erklärt der Rechtsanwalt Faik Özgür Erol, wie die türkische Regierung einerseits auf Imrali ihr eigenes Recht bricht und andererseits die Ausnahmesituation der Gefängnisinsel schrittweise zum Normalzustand in der gesamten Türkei macht. Darüber hinaus geht der Anwalt von Abdullah Öcalan auf die Verantwortung der europäischen Institutionen gegenüber der Situation auf Imrali ein und erklärt, dass die Isolationsbedingungen einen Angriff auf den Widerstandsgeist des PKK-Vorsitzenden darstellen.

Lassen sich die Isolationshaftbedingungen auf Imrali im Rahmen der Rechtstaatlichkeit begründen?

Beim staatlichen Umgang mit den Inhaftierten auf der Gefängnisinsel Imrali im Laufe des 21. Jahrhunderts wurde mal das türkische Recht gebeugt, ein anderes Mal völlig ignoriert und dann wiederum wurden spezielle Gesetze erlassen, die auf diese Haftanstalt ausgerichtet waren. Die Isolationspraxis auf Imrali beginnt mit dem Tag, an dem Abdullah Öcalan am 16. Februar 1999 in dieses Gefängnis eingeliefert wurde. Die Praxis, die für diese Haftanstalt in den vergangenen 21 Jahren geschaffen und entwickelt wurde, wird mittlerweile auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Das Imrali-System ist also gewissermaßen der Nukleus eines neuen autoritären Herrschaftsstils in der Türkei.

Immer wieder wird der Vergleich zwischen den Systemen Imrali und Guantanamo hergestellt. Inwieweit macht dieser Vergleich Sinn?

Guantanamo und Imrali stellen zwei Haftsysteme dar, in denen die verantwortlichen Staaten ihre eigenen rechtlichen Mindeststandards, die sie für die Gefangenen im eigenen Land gesetzlich festgeschrieben haben, mit Füßen treten.

Wir können erkennen, dass durch den globalen Terrorismusdiskurs nach den Anschlägen vom 11. September [2001] vielerorts auf der Welt neue »Anti-Terrorgesetze« erlassen wurden. Der »Sicherheitsdiskurs« wurde zu einem zentralen Element der Politik. Die Terrorismusdefinition hingegen blieb schwammig und vor allem äußerst dehnbar. Quasi über Nacht konnte man ganze Straßenzüge kameraüberwachen. Die Frage, inwieweit Maßnahmen wie diese die Grundrechte der Menschen einschränken, wurde hingegen kaum gestellt. Und im Rahmen dieser Entwicklung wurden auch die Gefängnissysteme neu ausgerichtet.

Guantanamo und Imrali können mit als die ersten beiden Haftanstalten benannt werden, die diese Neuausrichtung erlebten. Sie gelten als Orte, in denen Gesetze, die dem Handeln staatlicher Akteure gegenüber Gefangenen Grenzen setzen, keine Geltung mehr hatten. Kurz darauf wurde öffentlich, dass die CIA an verschiedenen Orten Europas Geheimgefängnisse unterhält und mit CIA-Flugzeugen Menschen entführt. Das alles waren die Auswüchse des »Sicherheitsdiskurses«.

Das Rechtsbüro Asrın hat in einer Erklärung im Mai 2019 folgendes erklärt: »In den vergangenen vier Jahren, in denen die Isolation gegen Herrn Öcalan abermals verschärft wurde, hat im gesamten Land und insbesondere im Südosten der Krieg, das Chaos und die Verwüstung zugenommen. In der Phase hingegen, in der unser Mandant zumindest im begrenzten Umfang seine Rolle als politisches Subjekt spielen konnte, hat er für die tiefgreifenden Probleme des Landes Lösungsvorschläge formuliert und positiv auf die Geschehnisse in der gesamten Region eingewirkt.«

Der Umgang mit Herrn Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali wird immer wieder auch in Relation zu den aktuellen politischen Geschehnissen in der Türkei und der gesamten Region gesetzt. Können Sie uns diesen Zusammenhang erklären?

Der Zusammenhang ist offensichtlich. Es ist bekannt, dass nach den Hungerstreikaktionen 2019[1] das Besuchsverbot für Anwält*innen auf Imrali aufgehoben wurde und es anschließend zwischen Mai und August insgesamt fünf Besuche gab. Seitdem waren allerdings erneut keine Konsultationen auf Imrali mehr möglich. Es kam zu einem neuen Verbot und dieses wurde mit der Veröffentlichung der Roadmap[2] unseres Mandanten begründet. Sie haben also ein Verbot im Jahr 2019 mit einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 begründet. Ich brauche nicht zu erläutern, wie willkürlich dieses Verbot ist und wie sehr es mit den aktuellen politischen Entwicklungen zusammenhängt.

Diese Verbote und Beschränkungen treffen neben Herrn Öcalan natürlich auch die übrigen Gefangenen auf Imrali. Ihnen wird nicht nur das Recht auf Anwaltskonsultationen verwehrt, sie können auch seit knapp zwei Jahren keinen Besuch ihrer Familienangehörigen mehr empfangen. Verwehrt wird ihnen dieses Recht aufgrund von vermeintlichen Disziplinarstrafen. Und diese Strafen überschreiten jegliches Maß an Absurdität. So dürfen die Gefangenen auf Imrali beispielsweise dreimal die Woche für je eine Stunde gemeinsam Sport treiben. In diesen Zeiten spielen sie Basketball oder Volleyball. Nach einer halben oder dreiviertel Stunde Sport ruhen sich die Gefangenen dann aus und führen Gespräche untereinander. Allein das reicht für eine Disziplinarstrafe aus, weil die Gefangenen sich angeblich gegenseitig am gemeinsamen Sportbetrieb gehindert hätten. Wenn die Instanz, welche die Strafen vergibt und diejenige, welche diese Strafen kontrolliert, die gleiche ist, dann brauchen wir uns auch nicht über Absurditäten wie diese wundern.

Sie sprechen viel von Willkür. Heißt das, dass das Imrali-Gefängnis außerhalb des türkischen Rechts steht?

Auf der Gefängnisinsel Imrali herrscht permanenter Ausnahmezustand. Hier wurde ein Regime des Ausnahmezustands etabliert. Die Isolationshaft wurde in der Türkei in den 90er Jahren kurzzeitig im Gefängnis von Eskişehir umgesetzt, doch nach Protesten und Widerstand wieder abgeschafft. Dann wurde die Isolationshaft mit der Inhaftierung Herrn Öcalans wieder ins Leben gerufen. Kurze Zeit später wurde dieselbe Praxis begleitet von Massakern durch die F-Typ-Gefängnisse im gesamten Land ausgeweitet.

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Praktiken auf Imrali getestet und dann im ganzen Land umgesetzt werden. Ein anderes Beispiel ist das Protokollieren der Anwaltskonsultationen. Dies war zwischen 2005 und 2011 auf Imrali gängige Praxis. Kaum jemand hat sich dafür interessiert, weil auf Imrali schließlich der »Ausnahmezustand« herrscht. Nach dem Putschversuch von 2016 wurde dann allerdings ein Dekret erlassen, dass die Protokollierung von Gesprächen zwischen Anwält*innen und ihrer Mandant*innen durch die Sicherheitsorgane in allen Gefängnissen des Landes vorsieht. Was wir daraus lernen, ist folgendes: Sobald wir die Augen vor einer »Ausnahmepraxis«, die außerhalb des Rechts steht, für eine bestimmte Zeit verschließen, kann es schnell passieren, dass diese Ausnahme zum Regelfall für alle wird. Und genau in diesem Rahmen kommt der Praxis auf Imrali eine besondere Rolle zu.

Welche Verantwortung tragen internationale Institutionen für die Situation auf Imrali?

Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (CPT) sind Einrichtungen des Europarates. Die Türkei wiederum ist Mitglied im Europarat. Deshalb handelt es sich beim EGMR und beim CPT um Institutionen, welche die Türkei kontrollieren und sanktionieren können. Unsere Erfahrung mit diesen Institutionen in den letzten 20 Jahren zeigt, dass sie über alles, was auf Imrali geschieht, im Bilde sind. Ihre Position zu der Situation auf Imrali hingegen hängt sehr stark von der jeweiligen politischen Konjunktur ab.

Ich denke, insbesondere die Kurd*innen durften in den 2000er Jahren deutlich gemerkt haben, dass es kaum Sinn macht, Hoffnungen in den EGMR zu stecken. Das macht nicht nur der Imrali-Fall deutlich. Wir haben das auch während der Ereignisse während der Ausgangssperren in Kurdistan gesehen. Der EGMR ist in der Lage, in bestimmten Fällen klare Urteile zu fällen und deutlich zu werden. Doch meistens sind das die Fälle, die keine besondere politische Brisanz haben. Ist die politische Tragweite des Falls hingegen groß, zieht das Gericht Zurückhaltung vor. Geht es beispielsweise um die Rechte einer Einzelperson, wird der EGMR deutlich. Doch wenn dasselbe Recht nicht nur bei einem Individuum, sondern bei tausend Personen gleichzeitig gebrochen wird, dann kann es durchaus passieren, dass das EGMR sich zurückhält. Ich denke, das ist ein zentrales Problem der internationalen Institutionen des 21. Jahrhunderts. Sie verteidigen durchaus das individuelle Recht, aber keineswegs allerdings kollektive Rechte.

Kehren wir zurück nach Imrali und zu den Isolationshaftbedingungen Abdullah Öcalans. Als das ehemalige RAF-Mitglied Irmgard Möller 1994 aus 22 Jahren Haft, darunter viele Jahre Isolationshaft, entlassen wurde, erklärte sie »Das war ein Krieg zwischen dem Staat und uns. Diesen Krieg habe ich gewonnen«[3]. Der Autor Işık Ergüden, der wegen seines politischen Engagements lange in Haft saß, erklärt in einem seiner Bücher, dass das Recht dort neu geschrieben werden müsse, wo eine Person erfolgreich gegen die Isolation Widerstand geleistet hat. Wenn wir diese beiden Beispiele zur Grundlage nehmen, welche Position nimmt Herr Öcalan unter den Isolationshaftbedingungen in Imrali ein?

Wir sollten vielleicht erst mal festhalten, dass dort die Isolation am stärksten ist, wo der Widerstand stark ist. Denn die Isolation ist keine Ursache, sondern eine Antwort. Sie ist die Antwort der Herrschenden auf eine Widerstandspraxis. Das ist ein zentraler Punkt, den wir festhalten müssen. Die Isolation hat zudem den Zweck, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Herden des Widerstands zu kappen. Deshalb ist die Isolation auch dort besonders intensiv, wo der Widerstand für die Herrschenden gefährlich wird.

Herr Öcalan hat seiner Inhaftierung auf Imrali 1999 einen konstanten und kontinuierlichen Widerstand geleistet. Dieser Widerstand hat sich in der Systematik und Disziplin, die er in seinem Alltag, in der Vertiefung seiner gedanklichen Auseinandersetzung und in der Verschriftlichung seiner politischen Perspektiven dargelegt hat, widergespiegelt. Ich glaube, dass es äußerst schwierig sein wird, andere Beispiele für eine solche langanhaltende Widerstandspraxis unter Isolationshaftbedingungen zu finden.

Darüber hinaus hat Herr Öcalan trotz seiner Bedingungen immer wieder deutlich gemacht, dass er für eine demokratisch-friedliche Transformation des Konflikts als Ansprechpartner zur Verfügung steht. In den Phasen des Dialogs mit dem türkischen Staat, hat er immer wieder unter Beweis gestellt, dass er bereit ist, Hindernisse auf dem Weg zu einer möglichen Lösung zu beseitigen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Der Widerstand auf Imrali hat mehr als 20 Jahre hinter sich gelassen. In dieser Zeit hat Herr Öcalan zu keinem Zeitpunkt seine Position preisgegeben. Ich denke auch nicht, dass die Isolation in Zukunft dazu führen wird, in irgendeiner Form die Widerstandskraft von Herrn Öcalan zu brechen. Im Zentrum steht nicht die Isolation, sondern der Widerstand. Und letztlich ist es der Widerstand, der uns auch in schwierigsten Zeiten Hoffnung schenkt.


Fußnoten

[1] 2019 konnte die Isolation von Abdullah Öcalan durch einen Ende 2018 von der kurdischen Politikerin Leyla Güven begonnenen Massenhungerstreik kurzfristig durchbrochen worden. An dem 200-tägigen Hungerstreik nahmen tausende Gefangene und viele Menschen außerhalb der Gefängnisse weltweit teil.

[2] 2009 verfasste Abdullah Öcalan die »Roadmap für Verhandlungen«, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Verteidigungsschrift vorgelegt wurde.

[3] https://www.metiskitap.com/catalog/text/57743

Das hier veröffentlichte Interview ist im Original in der Januar/Februar-Ausgabe des Kurdistan Report erschienen.