HPG-Pressesprecher: Zahlen geben Ausmaß der Angriffe nicht wieder

Die Guerilla berichtet täglich über die türkische Invasion Südkurdistans, einschließlich dem Einsatz verbotener Waffen. Doch die in den Bilanzen enthaltenen Zahlen geben das Ausmaß dieser Angriffe nicht voll wieder, sagt HPG-Pressesprecher Serdar Yektas.

Täglich berichtet das Pressezentrum der Volksverteidigungskräfte (HPG-BIM) aus den von der Guerilla kontrollierten Medya-Verteidigungsgebieten über die aktuellen Entwicklungen der Auseinandersetzungen mit der türkischen Armee. Tages- und Monatsbilanzen der Gefechte, ausführliche Informationen über gefallene Kämpfer:innen, Videos von Aktionen der Guerilla oder dem Einsatz chemischer Waffen durch die türkische Armee sowie detaillierte Berichte über die Angriffe werden kontinuierlich mit der Öffentlichkeit geteilt. Damit stellt das HPG-Pressezentrum eine der wichtigsten Informationsquellen über den tatsächlichen Verlauf des Kriegsgeschehens in der Region dar. Die Redaktion des Kurdistan-Report hatte die Gelegenheit, für die November/Dezember-Ausgabe mit dem HPG-Pressesprecher Serdar Yektaş ein Interview zu führen. Im Fokus des Gesprächs stand die Frage nach dem Einsatz chemischer und anderer international geächteter Waffen durch die türkische Armee in Südkurdistan.

Die HPG berichten von über 2000 Angriffen der türkischen Armee mit chemischen Waffen gegen die Guerilla in Südkurdistan seit April dieses Jahres. Für Leser:innen in Deutschland mag diese Zahl schwer nachvollziehbar sein. Kannst Du uns daher kurz von der Art der Waffen berichten, die die türkische Armee gegen die Guerilla einsetzt?

Zwischen dem 14. April und dem 14. September dieses Jahres hat die türkische Armee insgesamt 2004 Mal international verbotene Waffen gegen unsere Guerilla-Kräfte in den Gebieten Zap, Avaşîn und Metîna eingesetzt. Diese drei Gebiete liegen alle in Südkurdistan (Nordirak), und zwar in einer Region, die wir als Medya-Verteidigungsgebiete bezeichnen. Der Einsatz dieser Waffen dauert auch nach dem 14. September weiter an.

Ich vermute, dass viele eurer Leser:innen die geographischen Verhältnisse und den bisherigen Verlauf des Krieges in der Region nicht vollständig kennen. Deshalb möchte ich kurz auf diese beiden Themen eingehen, damit die Leser:innen die Situation vor Ort besser verstehen können. In den besagten Gebieten Zap, Avaşîn und Metîna hat die Guerilla zur Verteidigung Südkurdistans eine Vielzahl unterirdischer Stellungen und Tunnelanlagen gebaut. Sie werden sowohl als Verteidigungsanlagen als auch als Orte des alltäglichen Lebens genutzt. Die Guerilla hat sich in diesen unterirdischen Stellungen und Tunnelanlagen eingerichtet und verteidigt sich dort. Manche dieser Anlagen sind klein und übersichtlich, während andere sehr groß und komplex sind. Aus taktischen Gründen kann ich keine detaillierten Informationen zu diesem Thema geben, aber kurz gefasst können wir sagen, dass all die unterirdischen Stellungen und Tunnelanlagen, die unsere Kräfte in zahlreichen Berggipfeln gebaut haben, die Rolle unterirdischer Verteidigungsfestungen spielen. Egal wie sehr der türkische Staat diese Stellungen auch mit seinen Kampfflugzeugen bombardiert, er ist schlichtweg nicht in der Lage, auf diese Weise die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.

Einer der Hauptgründe dafür, dass die Guerilla diese unterirdischen Stellungen und Tunnelanlagen gebaut hat, besteht in ihrer Absicht, die Tiefe des Geländes zu nutzen und sich auf diese Weise verteidigen zu können. Seitdem der türkische Staat seine Soldaten ab dem 17. April dieses Jahres in den besagten Gebieten Südkurdistans mithilfe von Helikoptern absetzte, sehen diese sich mit den unterirdischen Verteidigungsfestungen konfrontiert. Die türkische Armee weiß, dass sie die unterirdischen Festungen einnehmen muss, wenn sie die Gebiete kontrollieren und letztendlich besetzen möchte. Doch mithilfe ihrer konventionellen Streitkräfte ist ihr das nicht möglich. Denn ihre Angriffshubschrauber, Kriegsflugzeuge, Artillerie und leichteren Waffensysteme kommen nicht gegen die unterirdischen Stellungen und Tunnelanlagen an. Zudem sind die türkischen Soldaten nicht mutig genug, um sich in diese Tunnel zu begeben und dort zu kämpfen. Deshalb wurden zunächst Kontra-Kräfte [kurdische, vom türkischen Staat bezahlte Dorfschützer], paramilitärische Kräfte [arabisch-islamistische Proxy-Kräfte] und Söldner eingesetzt. Mit ihnen sollten die unterirdischen Tunnel eingenommen werden, was jedoch nicht gelang. Daraufhin wurden Hunde in die Tunnel geschickt. Wir haben vor Kurzem Videos dieser Einsätze veröffentlicht, die dies klar belegen.

Als die türkische Armee erkannte, dass sie trotz all dieser Versuche unsere Kräfte in den unterirdischen Stellungen und Tunnelanlagen nicht besiegen kann, begann sie international verbotene Waffen einzusetzen. Um unsere Freund:innen [kurd.: Heval, entspricht dem deutschen „Genoss:in“; Anm. d. Red.] in den Tunneln zu ersticken, setzte sie nun zunächst giftige Gase ein, die die Augen stark reizen und die Atmung massiv einschränken bzw. zum Tod durch Ersticken führen. Doch weil unsere Kräfte während des Krieges in den südkurdischen Regionen Gare [vier Tage andauernder Krieg gegen die türkische Armee im Februar 2021; Anm. d. Red.] und Avaşîn [der dortige Krieg dauert seit dem 23. April 2021 an; Anm. d. Red.] beim Einsatz dieser Waffen wichtige Erfahrungen gesammelt hatten, war es uns gelungen, zuvor gewisse Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen, z. B. in Form von Gasmasken. Der türkische Staat musste also einsehen, dass er auch mithilfe dieser giftigen Gase die Guerillakräfte in den Tunneln nicht besiegen kann. Als Reaktion darauf begann die türkische Armee noch schwerere Waffen einzusetzen. Dazu gehören vor allem Phosphorbomben, thermobarische Bomben [auch Vakuum-Bomben genannt; zweifache Wirkung durch Druckwelle und anschließenden Unterdruck; Anm. d. Red.] und chemische Waffen.

Bezüglich der fünf Arten von chemischen Waffen, die bisher gegen unsere Kräfte eingesetzt wurden, können wir folgende Informationen mit euch teilen: Erstens, das Nervengas Tabun wurde eingesetzt. Zweitens der chemische Kampfstoff Chlorpikrin, auch Green Cross (Grünkreuz) genannt, der zum Tod durch Ersticken führt. Drittens der chemische Kampfstoff Senfgas, der auch unter dem Namen Yellow Cross (Gelbkreuz) bekannt ist. Dieser Kampfstoff führt zu großflächigen Verbrennungen des menschlichen Körpers. Viertens ein Gas, durch welches das Bewusstsein verloren geht bzw. stark eingeschränkt wird. Es führt zudem zu langfristigen Einschränkungen des menschlichen Erinnerungsvermögens. Und fünftens Pfeffergas, das in geschlossenen Räumen zum Tod durch Ersticken oder Herzstillstand führt. Das sind die Arten der chemischen Waffen, die 2021 und 2022 hauptsächlich von der türkischen Armee eingesetzt wurden bzw. werden. Zusätzlich wurden in diesem Jahr noch andere vergleichbare Waffen eingesetzt. Zum Beispiel wurden immer wieder gewisse Plastikstoffe vor den Tunneleingängen verbrannt und der dadurch entstehende Qualm in die Tunnel geleitet. Ohne Vorkehrungsmaßnahmen droht dadurch Ersticken oder Vergiftung.

In der von uns veröffentlichten Fünf-Monats-Bilanz des Krieges in Südkurdistan haben wir von 2004 Einsätzen international verbotener Waffen berichtet. Doch letztendlich liegt diese Zahl noch deutlich höher. Ich möchte darauf an dieser Stelle etwas genauer eingehen, damit es besser verständlich wird: Türkische Soldaten kommen wie bereits berichtet immer wieder vor die Tunneleingänge und bringen dort chemische und andere international verbotene Waffen zum Einsatz. Manchmal werden diese Waffen auch in Form von Handgranaten aus einer gewissen Entfernung in die Tunnel geworfen. In anderen Fällen werden Maschinen eingesetzt und vor den Tunneleingängen positioniert. Von dort pumpen sie dann stundenlang giftige Gase in die Tunnel. Zum Teil werden chemische Waffen auch in Form größerer Bomben in den Tunneln eingesetzt, wo sie zuerst explodieren, und dann stundenlange Feuer auslösen. Einige dieser chemischen Kampfstoffe brennen zum Teil fünf bis sechs Stunden lang. Wenn die Luftzirkulation in den betroffenen Tunnelsystemen gut ist, lässt die Wirkung dieser Waffen schnell nach. Doch immer wieder entfalten sie über Stunden ihre Wirkung. Jeden solcher Angriffe zählen wir als einen einzigen Angriff. Doch ist es wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass ein einziger dieser Angriffe mit international verbotenen Waffen manchmal stundenlang dauert oder dass immer wieder vor allen Tunneleingängen gleichzeitig Explosionen durchgeführt werden, damit unsere Kräfte in der jeweiligen Tunnelanlage definitiv getroffen werden. Nur durch Zahlen lässt sich das Ausmaß dieser Angriffe also schwer zum Ausdruck bringen. Daher ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass unsere Guerilla-Kräfte seit über fünf Monaten, also seit mehr als 160 Tagen, mit diesen Angriffen konfrontiert sind.

Ich möchte an dieser Stelle auch noch folgende Information mit euch teilen: In diesem Jahr sind bisher 58 unserer Genoss:innen durch den Einsatz chemischer Waffen gefallen (Stand 22.09.2022). Entsprechend den Möglichkeiten, die uns in den umkämpften Gebieten zur Verfügung stehen, haben wir Erdproben, Wasserproben und auch Haut-, Haar- und Kleidungsproben von einigen unserer gefallenen Genoss:innen an die entsprechenden Institutionen im Ausland geschickt. Zudem haben wir eine große Zahl von Videos und Fotos veröffentlicht, die den Einsatz dieser Waffen durch die türkische Armee belegen.

Ihr berichtet auch immer wieder von dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Wie kommt Ihr zu der Einschätzung, dass die türkische Armee diese Waffen einsetzt?

In der Antwort auf die erste Frage bin ich zunächst einmal nur auf den Einsatz chemischer Waffen und giftiger Gase eingegangen. Diese Waffen setzt die türkische Armee intensiv gegen uns ein. Doch ist es unseren Kräften mittlerweile wie bereits erwähnt gelungen, gewisse Vorkehrungsmaßnahmen gegen diese Angriffe zu treffen. Mit jeder:jedem durch chemische Waffen gefallenen Freund:in haben wir dazugelernt und unsere Schutzmaßnahmen entsprechend angepasst. Deshalb haben diese Waffen bisher keinen überdimensionalen Schaden in unseren Reihen angerichtet.

Als die türkische Armee erkannte, dass die Guerilla durch diese Waffen nicht in die Knie gezwungen werden kann und stattdessen ihren Widerstand entschlossen fortsetzt, begann sie eine neue Methode anzuwenden – verschiedenste Arten von Bomben in den Tunnelanlagen der Guerilla zur Explosion zu bringen, um diese einstürzen zu lassen oder die dortigen Schutzmaßnahmen der Guerilla unwirksam zu machen und chemische Waffen dementsprechend wirkungsvoller zum Einsatz bringen zu können. Doch auch gegen diese Methode entwickelten die Guerilla-Kräfte Vorkehrungen.

Als Reaktion setzte die türkische Armee auf noch stärkere Explosionen. Unsere unterirdischen Tunnelanlagen zeichnen sich durch gewisse Besonderheiten aus. Sie befinden sich vollständig unter Gebirgsgestein. Einige von ihnen liegen hunderte Meter unter der Erde und haben eine Länge von mehreren hundert Metern. Deshalb kann man sie mithilfe normaler Bomben und Explosivstoffe nicht zum Einsturz bringen. In letzter Zeit begann die türkische Armee Explosionen enormen Ausmaßes durchzuführen. Zuerst wussten wir auch nicht, was genau dort vor sich ging. Freund:innen, die Angriffe mit dieser Art von Bomben selbst miterlebt hatten, berichteten von Explosionen, die ganze Berge praktisch zum Beben brachten, also die Wirkung kleiner Erdbeben hatten. Wir haben daraufhin genauer nachgeforscht und gezielt Beobachtungen durchgeführt. Dadurch konnten wir feststellen, dass es sich um Bomben mit einer extrem starken Explosionskraft handelte. Ein türkischer General [General a. D. Erdoğan Karakuş in der Sendung „Tarafsız Bölge“ auf CNN Türk am 23.03.2022] hat selbst eingestanden, dass die türkische Armee taktische Nuklearwaffen gegen die PKK einsetzt.

Nicht, dass das falsch verstanden wird: Atombomben und taktische Nuklearwaffen unterscheiden sich voneinander. Taktische Nuklearwaffen sind Bomben, die unter dem Einsatz relativ geringer Mengen von Sprengstoff (ca. 50 kg) eine Explosionskraft von einer Kilotonne entfalten. Um deren Wirkung noch besser verständlich zu machen, können wir die Explosion in der libanesischen Hauptstadt Beirut am 4. August 2020 als Beispiel nehmen. Es handelt sich um derart enorme Explosionen, dass ganze Stadtviertel vollständig zerstört werden können. Der entscheidende Unterschied zu klassischen Atombomben ist, dass nach der Explosion keine radioaktiven Stoffe zurückbleiben.

Wer von einem derart massiven Einsatz chemischer Waffen und taktischer Nuklearwaffen hört, fragt sich natürlich, wie die Guerilla sich dagegen schützt bzw. unter diesen Bedingungen dazu in der Lage ist, weiter Widerstand zu leisten. Kannst Du uns genauere Informationen dazu geben?

Die Guerilla nutzt das Gelände sowohl in der Tiefe als auch in der Weite. Wir schützen uns vor der Luftwaffe des türkischen Staates, indem wir uns in Form von mobilen, kleinen Einheiten im Gelände verteilen. Dadurch machen wir die Angriffsziele für ihn sehr klein. Zudem setzen unsere Kräfte auf wirkungsvolle Camouflage. Durch diese Maßnahmen ist es sehr schwer, die mobilen Guerilla-Einheiten im Gelände auszumachen. In der Tiefe setzen wir auf die bereits erwähnten Tunnelanlagen. Eure Frage richtet sich ausschließlich auf die Angriffe der türkischen Armee, weshalb ich vor allem auf diesen Aspekt eingegangen bin. Doch ist es auch wichtig zu wissen, dass wir überall und ständig Angriffe gegen die Besatzer durchführen. Deshalb kann die türkische Armee ihre Angriffe nicht so einfach durchführen. Ich möchte ein konkretes Beispiel geben, damit dieser Aspekt besser verständlich wird: Wenn türkische Soldaten eine taktische Nuklearwaffe oder chemische Waffen an den Tunneleingängen positionieren, können sie nicht bis ins Innere der Tunnelanlagen vordringen, um diese Waffen dort zum Einsatz zu bringen. Denn wer auch immer von ihnen sich in die Tunnel begibt, kommt dort nicht wieder heraus. Wir haben viele türkische Soldaten getötet, die in die Tunnelanlagen vordringen wollten, und deren Waffen und Equipment unter unsere Kontrolle gebracht. Deshalb können die Besatzer die Bomben oder chemischen Waffen nur an den Eingängen der Tunnel positionieren, sich dann von dort entfernen und die Explosionen aus einer gewissen Entfernung auslösen. Dadurch verpuffen 80 bis 90 Prozent der Explosionswirkung nach draußen und nur ein kleiner Teil entfaltet seine Wirkung in den unterirdischen Tunnelanlagen. So dienen die Tunnel also als Schutz gegen diese Art von Angriffen. Ohne sie wäre die Verteidigung gegen diese Waffen schlichtweg unmöglich. Auch der türkische Staat hat das mittlerweile einsehen müssen und setzt daher seit Kurzem Bagger und anderes schweres Gerät ein, um die Tunneleingänge zum Einstürzen zu bringen, die Vorkehrungen der Guerilla wirkungslos zu machen und somit seine gewünschten Ziele zu erreichen.

Habt Ihr als HPG Informationen darüber, woher die Türkei diese Waffen hat? Ist sie selbst dazu in der Lage, chemische Waffen und taktische Nuklearwaffen herzustellen?

Im Laufe dieses Krieges hat sich sehr deutlich gezeigt, dass die NATO den türkischen Staat sowohl offen als auch verdeckt unterstützt. Denn praktisch alle Waffen des türkischen Staates – egal ob seine Kampfflugzeuge, Helikopter oder andere Kriegstechnik – stammen aus Beständen von NATO-Ländern. Das technologische Knowhow und die finanziellen Möglichkeiten des türkischen Staates erlauben es ihm nicht, diese Waffen selbst herzustellen. Wir wissen daher sehr genau, dass die Türkei ihre Waffen aus dem Ausland bezieht, insbesondere von der NATO. Bevor der türkische Staat seine jüngsten Besatzungsangriffe [auf Südkurdistan] begann, kam es zu zahlreichen diplomatischen Treffen mit Vertreter:innen des deutschen Staates. Der deutsche Staat leistet ganz offen Unterstützung.

Es ist allseits bekannt, dass der Einsatz der zuvor erwähnten Waffen durch internationale Abkommen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen geächtet wird. Daher achten alle Staaten, die der Türkei diese Waffen zur Verfügung stellen, tunlichst darauf, dass dies nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Doch mittlerweile lässt sich das nicht mehr verheimlichen, denn der Einsatz dieser Waffen ist offensichtlich. Wir haben dies umfassend dokumentiert und öffentlich gemacht. Egal, wie sehr auch versucht wird, dies zu verdecken: Der türkische Staat hat in den Gebieten Zap, Avaşîn, Metîna und Gare tausende Male Kriegsverbrechen begangen und tut dies auch weiterhin. All die Staaten, die internationale Abkommen über den Einsatz verbotener Waffen unterzeichnet und diese Waffen eindeutig benannt haben, schweigen heute zu den Kriegsverbrechen des türkischen Staates. Das bestätigt eindeutig, dass sie den türkischen Staat unterstützen und sich dementsprechend mitschuldig machen.

Seit dem Frühling letzten Jahres berichtet Ihr immer wieder von dem Einsatz dieser verbotenen Waffen. International ist dies jedoch weder medial noch politisch auf eine große Resonanz gestoßen. Wie nehmt Ihr die Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit wahr?

Bereits in der Vergangenheit wurde das kurdische Volk immer wieder als „ein Volk ohne Beschützer:in“ bezeichnet. Niemand verteidigt dessen Rechte. Wenn wir nach internationalem Recht und den Gesetzen der regionalen Staaten gehen, gibt es uns als kurdisches Volk schlichtweg nicht! Niemand hat unsere Existenz, Identität und unseren Status bisher anerkannt. Nur durch einen enormen Kampf und unter großen Opfern ist es den Kurd:innen gelungen, gewisse Ergebnisse zu erzielen und eigene Werte zu schaffen. Doch die internationalen Mächte haben das noch immer nicht offiziell anerkannt. Sie halten immer noch an dem Vertrag von Lausanne fest [1923 unterzeichneter Vertrag, der u. a. die Vierteilung Kurdistans festschreibt; Anm. d. Red.]. Denn als kurdisches Volk wird unsere Existenz weiterhin nicht anerkannt. Wir werden nicht als ein freies Volk mit einem eigenen Status betrachtet, weshalb auch unsere Stimme nicht wirklich gehört wird. Dementsprechend befindet sich auch die Freiheitsbewegung Kurdistans unter einer Umzingelung der Besatzerstaaten. Unsere Partei, die PKK, wird überall isoliert und unsere legitimen Aufrufe und Stellungnahmen werden als unberechtigt abgetan. Selbst wenn sie wahrgenommen werden, wird doch so getan, als sei nichts geschehen. Für all das gibt es natürlich zahlreiche Gründe: die Interessen der Staaten, politische Gleichgewichte, die politische Konjunktur und weitere. Doch was auch immer die Gründe für dieses Schweigen sein mögen, die Wahrheit lässt sich dadurch nicht verändern. Denn wir sprechen schlichtweg die Wahrheit aus. Wir geben unser Leben für die Existenz und Freiheit des kurdischen Volkes. Der Einsatz dieser verbotenen Waffen ist mittlerweile umfassend dokumentiert und damit bereits in die Geschichte eingegangen. In der Zukunft wird dieses Thema noch stärker auf die Agenda gesetzt werden. Wir werden nicht zulassen, dass das vergessen wird. Genauso wie wir Helebce (Halabdscha) [Giftgasangriff des Saddam-Regimes am 16. März 1988 auf die südkurdische Stadt Helebce, bei dem bis zu 5000 Menschen getötet wurden; Anm. d. Red.] nicht vergessen haben, werden wir auch die aktuellen Ereignisse, die Helebce um ein Tausendfaches übertreffen, niemals vergessen.

Gibt es noch etwas, was Du zu diesem Thema gerne zur Sprache bringen möchtest?

Auch wenn es in diesem Rahmen nur kurz möglich war, habe ich doch versucht, die aktuelle Situation mit euch zu teilen. Es mag sein, dass die Besatzerstaaten und die hegemonialen Kräfte an ihrer Politik festhalten. Doch auch wir werden weiter auf der Wahrheit bestehen und sie mit unserem Volk und der Weltöffentlichkeit teilen. Wir handeln zuallererst aus Respekt vor der Geschichte und der Wahrheit. Allein aus diesem Grund werden wir bis zum Ende an der Wahrheit festhalten. Die dafür notwendigen Opfer geben wir bereits täglich in Form all unserer so geschätzten Freund:innen, die fallen. Egal wie die Haltung der Herrschenden ist, unser patriotisches Volk und unsere internationalen Freund:innen stehen auf unserer Seite. Wir sind von unserer Ideologie des demokratischen Sozialismus überzeugt und betrachten daher die Kraft der Völker als das Allerwichtigste. Solange ihre Herzen für uns schlagen und sie uns unterstützen, werden wir niemals besiegt werden. In diesem Sinne grüßen wir unser gesamtes aktives und widerständiges Volk. Zudem möchten wir euch dafür danken, dass Ihr uns auf diesem Wege ermöglicht habt, all die genannten Tatsachen, also die Wahrheit, zur Sprache zu bringen.


Das Gespräch wurde am 22. September 2022 geführt.