Murat Karayilan hat sich als Kommandant des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG) gegenüber ANF zum Einsatz verbotener Kampfmittel durch die türkische Armee in Südkurdistan geäußert. In dem von Deniz Kendal geführten Interview ging Karayilan unter anderem auf folgende Themen ein:
Veröffentlichung verstörender Videoaufnahmen
Zu der Veröffentlichung der verstörenden Videoaufnahmen der sterbenden Guerillakämpfer:innen Baz Mordem (Mehmet Can Evren) und Helbest Koçerîn (Kevser Ete) erklärt Karayilan: „Ich möchte mich bei allen patriotischen Menschen und vor allem bei den Müttern und Familien der Gefallenen dafür entschuldigen, dass wir die Aufnahmen von Heval Baz und Hevala Helbest veröffentlicht haben. Ich gehe davon aus, dass die Familien und unser Volk Verständnis dafür haben, dass wir das tun mussten, damit die Realität hier vor Ort auf prägnante Weise sichtbar wird.“
Das Video hat im kurdischen Volk einen Aufschrei verursacht, auch aus demokratischen Kreisen kamen heftige Reaktionen. Der türkische Staat dementierte umgehend, über Chemiewaffen zu verfügen und diese einzusetzen. Um die Diskussion im Keim zu ersticken, wurden Journalist:innen in der Türkei verhaftet. Die Verhaftung der prominenten Forensikerin Şebnem Korur Fincancı löste internationale Kritik aus, der Weltärztebund und weitere Organisationen schlossen sich der Forderung der Ärztekammerpräsidentin nach einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe an.
Warum gibt es keine unabhängige Untersuchung?
Karayilan erklärt dazu: „Unser Volk, unsere Freundinnen und Freunde, Menschenrechtsorganisationen und alle unabhängigen Kreise, die über ein Gewissen verfügen, können sich in einem Punkt vollkommen sicher sein: Die Informationen, die wir als Kommandantur zu dem Einsatz verbotener Bomben und chemischer Waffen durch die türkischen Streitkräfte in Südkurdistan veröffentlichen, enthalten keine Übertreibung oder Fehler. Es sind gesicherte Informationen. Wir berichten bereits seit dem Angriff auf Gare im Februar 2021 kontinuierlich über diese Seite des Krieges. Der türkische Staat hat in den vergangenen zwei Jahren dazu geschwiegen und möglichst nicht reagiert. Nur im letzten Jahr hat [Verteidigungsminister] Hulusi Akar eine Erklärung abgegeben und gesagt: ,Wir setzen keine chemischen Waffen ein, nur Pfeffergas.' Allerdings ist auch Pfeffergas ein chemisches Mittel und laut Kriegsrecht in militärischen Auseinandersetzungen und vor allem in geschlossenen Räumen verboten. Der türkische Staat hat die Chemiewaffenkonvention unterschrieben und zugesagt, solche Kampfmittel nicht zu nutzen. Dennoch setzt er nicht nur Pfeffergas ein, sondern verschiedene tödliche Mittel mit verschiedenen Auswirkungen auf Menschen. Er will jede öffentliche Debatte darüber verhindern.
Als zuletzt konkrete Belege vorgelegt wurden, hat der türkische Staat am selben Tag ohne irgendwelche Ermittlungen behauptet, dabei handele es sich um PKK-Propaganda. ,Unsere Armee ist sauber, solche Waffen gibt es nicht in unserem Inventar', wurde gesagt. Die Anschuldigungen wurden sofort zurückgewiesen und durch das hektische Dementi wurde das Schuldbewusstsein deutlich. An dieser Stelle möchte ich den Aufruf wiederholen, den wertvolle Politikerinnen und Menschenrechtler:innen bereits hervorgebracht haben: Wenn die Armee sauber ist und die Anschuldigungen erlogen sind, dann kann einer unabhängigen Delegation eine Untersuchung am Ort des Geschehens ermöglicht werden. Damit könnte ja bewiesen werden, dass alles sauber ist.“
Zur Rolle der NATO und internationaler Organisationen
Karayilan sagt, dass die Türkei auf internationaler Ebene zu Kriegsverbrechen ermutigt wird: „Als der türkische Staat gesehen hat, dass keine Reaktion von internationalen Kreisen auf den Einsatz verbotener Kampfmittel erfolgt, hat er es gewagt, im Jahr 2022 noch mehr chemische Gase, taktische Nuklearwaffen und thermobarische Bomben zu benutzen. Die schweigende Haltung internationaler Institutionen und insbesondere die Unterstützung der NATO-Staaten für die türkischen Operationen sowie die Tatsache, dass gewisse Staaten der Türkei solche Waffen anbieten oder mit ihr zusammen herstellen, weist auf ihre Mittäterschaft hin. Zumindest hat das Schweigen der internationalen Institutionen sowie die unterstützende Position der betreffenden Staaten den türkischen Staat ermutigt und sogar übermütig werden lassen. Er setzt im 21. Jahrhundert gegen die Freiheitskämpfer:innen des kurdischen Volkes täglich und offen Dutzende Male Waffen ein, die durch die von ihm selbst unterzeichneten Abkommen verboten sind.
Ist es möglich, dass die internationalen Mächte nichts davon wissen? Nein, das ist es nicht. Wie lässt sich also das Schweigen internationaler Einrichtungen wie der OPCW interpretieren? Es ist ganz offensichtlich, wie felsenfest das Kriegsregime der AKP/MHP davon ausgeht, dass dem Volk Kurdistans auf internationaler Arena nicht beigestanden wird. Dadurch wird es ermutigt, internationales Recht rücksichtslos zu verletzen.“
Der türkische Staat will Ergebnisse vor Wintereinbruch
Karayilan weist darauf hin, dass der türkische Staat seit dem Massaker von Dersim 1937 immer wieder Giftgas gegen Kurd:innen eingesetzt hat. Er warnt jedoch davor, Kriegsverbrechen als Normalzustand aufzufassen, und sagt: „Es ist richtig, dass es solche Einsätze in der Vergangenheit gab, aber es gibt einen Unterschied zu den heutigen Einsätzen. In den letzten zwei Jahren und insbesondere seit April dieses Jahres setzt der türkische Staat auf sehr systematische Weise täglich Dutzende Male verbotene Waffen ein. Das muss gesehen werden. Chemiewaffen sind als grundlegende Methode geplant worden, um den Widerstand der Freiheitsguerilla Kurdistans zu brechen. Gegen diese brutale Unmenschlichkeit müssen sich alle Menschen mit einem Gewissen unbedingt positionieren. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, der in einem Zustand größter Bedrängnis auftritt, sondern um ein grundlegendes Vorgehen, um einen Völkermord zu verüben und zu einem Ergebnis zu kommen. Weil Hulusi Akar und Tayyip Erdogan sehen, dass sie damit bisher trotzdem nicht weitergekommen sind, werden die Einsätze intensiviert, weil sie unbedingt vor Wintereinbruch ein Ergebnis haben wollen.“
Von der PDK beschlagnahmte Gasmasken
Zu den Medienberichten über die angeblich von der Guerilla gekauften und im Frühjahr von der PDK beschlagnahmten Gasmasken erklärt Murat Karayilan: „Diese Masken sind nicht von der Guerilla gekauft worden. Es handelte sich um Masken, die im Zuge einer Kampagne von befreundeten und demokratischen Kreisen aus Europa, die für die Menschenrechte eintreten und nicht wollen, dass Menschen durch Chemiewaffen sterben, gekauft und geschickt wurden. Weil sie nicht wussten, wie sie die Guerilla erreichen können, haben sie die Masken nach Rojava gebracht. Erst dann haben wir davon erfahren. Von dort aus sollten die Masken mit einem Zivilfahrzeug heimlich zur Guerilla transportiert werden. Auf dem Weg hat die PDK zugegriffen und auch noch so getan, als ob ihr ein großer Schlag gelungen sei. Das ist die Geschichte dieser Masken. Sie wurden durch den Einsatz von europäischen Freund:innen hergebracht und von der PDK beschlagnahmt.“