Hinter der Bühne des PKK-Verbots

Nach intensiven Gesprächen zwischen Ankara, Washington, London und Bonn ließ die Bundesregierung am 26. November 1993 die PKK verbieten. Mit der Unterstützung des Westens eskalierte das Çiller-Regime den Krieg.

Mit dem Amtsantritt von Tansu Çiller (DP) im Juni 1993 als Ministerpräsidentin der Türkei sollte eine neue Phase im Krieg in Kurdistan und eine Veränderung der Lage der Kurd*innen in Europa, insbesondere in Deutschland anbrechen. Es hieß, Çiller wolle alle Hebel in Bewegung setzen, um die PKK in Bundesrepublik verbieten und zur „Terrororganisation“ erklären zu lassen sowie für die Schließung der kurdischen Vereine zu sorgen. Ertuğrul Özkök kommentierte damals in der Hürriyet: „So eine Gelegenheit wird die Türkei nicht noch einmal bekommen. Die internationalen Kräfteverhältnisse können sich nur soweit gegen die PKK wenden. Ab jetzt werden sich die Machtbalancen im Sinne der PKK verschieben. Deshalb müssen wir schnell zugreifen und dürfen uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“  

Die gut vorbereitete antikurdische diplomatische Offensive traf die Regierung in Bonn unvorbereitet. Noch im Sommer des Jahres 1993 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) mit Verweis auf den Föderalismus erklärt, dass ein bundesweites Verbot der PKK nicht möglich sei. Außenminister Klaus Kinkel (FDP) sagte sogar, als ehemaliger Justizminister wäre er vorsichtig, die PKK als „terroristisch“ zu bezeichnen.

Diese Worte sollten allerdings mit der Rundreise Çillers in Vergessenheit geraten. Der am 20. September 1993 beginnende Deutschlandbesuch der türkischen Ministerpräsidentin sollte die Tagesordnung ändern. Gegenüber der Presse erklärte Çiller: „Die Türken in Deutschland haben nicht einmal zehn Prozent der Rechte, die die Kurden in der Türkei haben. In Deutschland werden Türken verbrannt.“ Während sie in Nordkurdistan die Todesschwadronen des JITEM wüten ließ, in Dörfer und Gemeinden Massaker begangen wurden und der Massenmord in Licê kurz bevorstand, versuchte Çiller so, den systematischen Angriff auf die kurdische Zivilbevölkerung mit einem Verweis auf Nazimorde in Deutschland vom Tisch zu wischen.

Çiller bekommt gewünschte Unterstützung zugesichert

Nach dem Deutschlandbesuch Çillers traf sich die Ministerpräsidentin am 12. Oktober mit Bill Clinton. Es war nicht schwer zu erkennen, was diese Reise von Moskau über Bonn nach Washington bedeutete. Das Wichtigste war es, für die Ausweitung des Krieges in Kurdistan internationale Unterstützung zu erhalten. Nachdem Çiller die gewünschte Unterstützung zugesichert bekommen hatte, begann bereits wenige Tage später das Massaker von Licê. Türkische Truppen zogen am 22. Oktober 1993 durch die Stadt, steckten die Häuser in Brand und töteten 16 Zivilist*innen. Weitere 36 Menschen wurden teils schwer verletzt. Das Massaker fand auch ein breites Medienecho in Deutschland. Der Spiegel bezeichnete in seiner Überschrift Licê als „Klein-Beirut“.  

Aufgrund der grausamen Verbrechen in Licê gingen Kurdinnen und Kurden in Deutschland auf die Straße. Am 4. November fanden in mehr als 30 Städten zeitgleich Protestaktionen statt. Außerdem wurden türkische Konsulate, Reisebüros und türkische Banken ins Visier genommen. Nachdem bei einem Brand in einem Lokal in Wiesbaden eine Person um Leben kam, begann eine nie dagewesene Repressionswelle gegen Kurd*innen. Nun forderte Kinkel ein „sofortiges Verbot“ der PKK. Am gleichen Tag nahm der Außenminister Gespräche mit seinem türkischen Amtskollegen Hikmet Çetin zum gemeinsamen Kampf gegen die PKK auf.

Zwei Tage Diskussionen in sächsischem Kurort Oybin

Am 22. November fand ein Innenministertreffen im sächsischen Kurort Oybin statt. Auf der Tagesordnung des Treffens war das PKK-Verbot der zentrale Punkt. Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), welcher der Nachwelt wegen des CDU-Spendenskandals in dauerhafter Erinnerung bleiben sollte, ging mit einem 53-seitigen Dossier zum Verbot der PKK in diese Konferenz. Die Minister einiger Bundesländer widersetzten sich jedoch der zentralen Entscheidung. Die Gespräche dauerten zwei Tage, NRW-Innenminister Herbert Schnoor (SPD), der die endgültige Entscheidung am 25. November verkündete, sagte, man habe die PKK auf Antrag Kanthers verboten. Hamburgs Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) kommentierte: „Fragen Sie Kanther nach dem Verbot.“

Das Weiße Haus und das Verbot

Wenige Tage vor der Verbotsentscheidung liefen die Drähte zwischen Ankara, Bonn und Washington heiß. Zwischen der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, Bundeskanzler Helmut Kohl und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton wurde mehrere Tage lang über internationale Maßnahmen gegen die PKK verhandelt. Die Zeitung Milliyet, die am 26. November 1993 mit der Überschrift „Geheime Kurieroperation“ erschien, schrieb über diese Gespräche. Die Gespräche wurden mit geheimen Kurieren und über abhörsichere Telefone geführt. Dennoch berichtete Milliyet, dass hier die Entscheidung über eine Operation gegen die PKK gefällt worden sei. Offensichtlich spielte das Weiße Haus darin eine entscheidende Rolle. Kohl hatte am 25. November einen bedeutenden Gast in Bonn: den britischen Premier John Major. Die beiden hatten ebenfalls eine gemeinsame Operation gegen die PKK auf ihrer Agenda. Clinton soll an dem Treffen der beiden telefonisch teilgenommen und gesagt haben: „Vergesst die Forderungen der Türkei nicht“. Am Abend desselben Tages wurde die türkische Staatsführung über das in Oybin beschlossene Verbot in einem Telefonat mit dem deutschen Außenminister Kinkel informiert.

Verbotsverfügung

Am 26. November verfügte Innenminister Kanther das Verbot jeder Betätigung der Arbeiterpartei Kurdistans und der Nationalen Befreiungsfront (ERNK). Zur Begründung hieß es: „Deutschland ist kein Kriegsschauplatz für Terroristen und Freischärler. Deutschland ist auch nicht Ruheraum für Terroristen - und erst recht nicht Unruheraum. Wir können es nicht dulden, dass Konflikte aus den Herkunftsländern ausländischer Mitbürger von einer gewalttätigen Minderheit in Deutschland ausgetragen werden.“

Mit dieser absurden Erklärung setzte eine neue Phase im Vernichtungskonzept gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung ein. Mit keinem Wort waren in Kanthers Dossier die Ursachen der kurdischen Protestaktionen erwähnt worden, die Verbrennung und Vernichtung tausender kurdischer Dörfer, oder das Massaker von Licê.

Auflösung kurdischer Einrichtungen und Vereine

In den frühen Morgenstunden des 26. November begann eine der größten Razzien in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Kanther hatte zum Betätigungsverbot der PKK und ERNK auch die Auflösung des Berxwedan-Verlags, der kurdischen Nachrichtenagentur Kurd-Ha, der „Föderation der patriotischen Arbeiter- und Kulturvereine aus Kurdistan in der Bundesrepublik e.V. (FEYKA Kurdistan)“ sowie von 29 örtlichen kurdischen Vereinen und des „Kurdistan-Komitees e.V.“ in Köln verfügt. Tausende Polizisten stürmten die Einrichtungen und beschlagnahmten alles, was sie finden konnten. Die Begründung: „Die Tätigkeit der PKK sowie ihrer Teilorganisationen ERNK, Berxwedan Verlags GmbH und Kurd-Ha verstößt gegen den Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland.“

Zur Erläuterung wurde auf kurdische „Anschlagswellen“ in der Bundesrepublik im Jahre 1992 sowie im Juni und im November 1993 verwiesen. Als Verbotsgründe wurden weiter genannt „innerparteiliche gewaltsame Auseinandersetzungen“ in Deutschland 1987 und 1988. Im Einzelnen hieß es dann: „Die von Anhängern/Sympathisanten der PKK/ERNK begangenen Straftaten in Deutschland und der Türkei mit dem Ziel, einen Teil des türkischen Staatsgebietes in einen noch zu gründenden kurdischen Staat zu überführen, erfüllen diese Voraussetzungen. Die Straftaten stören das friedliche Zusammenleben zwischen Kurden und Türken sowohl in der Türkei als auch in Deutschland.“ Zudem würden die kurdischen Aktionen in Deutschland „das Verhältnis zum türkischen Staat erheblich stören“. Türkische Stellen (ausdrücklich genannt wurde unter anderem die Ministerpräsidentin Tansu Çiller) hätten den Vorwurf erhoben, „die Bundesregierung dulde PKK-Aktivitäten auf deutschem Boden und kontrolliere sie nicht oder nur mangelhaft“. (...) „Die politische Agitation der PKK und ihr nahestehender Organisationen hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht mehr vertretbares Ausmaß erreicht. (...) Diese Aktivitäten schädigen bereits heute Deutschlands Ansehen in der Türkei und die bilateralen Beziehungen erheblich.“ (...) „Eine weitere Duldung der PKK-Aktivitäten in Deutschland würde diese deutsche Außenpolitik unglaubwürdig machen und das Vertrauen eines wichtigen Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird, untergraben.“ (aus der Verbotsverfügung).   

Praktisch zeitgleich mit den Verboten eröffnete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gegen eine unbekannte Zahl von kurdischen Politiker*innen Ermittlungsverfahren wegen Bildung beziehungsweise Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“.

Verbot kam nur einen Tag vor Gründungsjubiläum

Das Verbot war am Vortag des Gründungsjubiläums der PKK, dem 27. November, ausgesprochen worden. Die Kurd*innen, die ihrer Vereine beraubt wurden, protestierten mit Sitzstreiks. Die Presse kritisierte das Verbot scharf. Die Frankfurter Rundschau warf der Bundesregierung am 27. November 1993 vor, die Türkei bei der Unterdrückung der Kurden zu unterstützen und in einer Allianz mit Ankara das Vorgehen des türkischen Nationalen Sicherheitsrats zu kopieren.  

Das Vorgehen der EU und der anderen Länder

Das Betätigungsverbot und die darauffolgenden Vereinsschließungen waren ein Vorbild für andere westliche Länder. Die Regierung in Washington setzte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Europäische Union im Rahmen des „Kampfs des internationalen Terrorismus" unter Druck. Im Dezember 2001 musste die EU auf Druck der USA eine Liste „terroristischer Organisationen“ ins Leben rufen. Die erste Liste, die am 28. Dezember 2001 bekannt gegeben wurde, umfasste insgesamt zwölf Organisationen: die baskische ETA, die „Revolutionäre Organisation 17. November“ in Griechenland, die Hisbollah im Libanon, den „Islamischen Dschihad“ und die Hamas. Erst nach sechs Monaten wurde die PKK auf die Liste aufgenommen. Auf Druck der Türkei erklärte die Europäische Kommission, das oberste Organ der EU, am 2. Mai 2002, sie habe nun auch die PKK auf die Liste gesetzt. Einer der Gründe, den die EU anführte, war das PKK-Verbot in Deutschland.

Neben der EU steht die PKK auch in folgenden Ländern auf „Terrorlisten“: Kanada, USA, Australien, Türkei, Neuseeland, Großbritannien, Saudi-Arabien, Iran, Kasachstan, Kirgisien und Japan. China, Indien, Ägypten und Russland gehören zu den Ländern, die die PKK trotz der Initiativen der türkischen Regierung immer noch nicht als „terroristische Organisation“ einstufen. Trotz der Entscheidung der belgischen Justiz, dass „die PKK keine terroristische Organisation, sondern eine Partei des Krieges mit der Türkei“ ist, beharren die westlichen Staaten, allen voran Deutschland, auf dem Konzept eines Verbots der 90er Jahre...

Aus dem Spiegel, Jahrgang 1994 | Heft 13