HDP fordert vorgezogene Neuwahlen

Die HDP hat eine Deklaration veröffentlicht, in der sie zu vorgezogenen Wahlen aufruft. In dem Positionspapier wird bekräftigt, alle Errungenschaften zu verteidigen und den demokratischen Kampf gegen das Regime der Zwangsverwaltung fortzusetzen.

In der Türkei wird schrittweise ein Regime aufgebaut, in dem Mandatsträger*innen nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden. Betroffen von dieser autoritären und korrupten Regierungsform sind einzig kurdische Städte und Kommunen. Die AKP-Regierung hat seit dem 19. August Zwangsverwalter in 24 ehemals HDP-geführten Rathäusern eingesetzt. Bisher wurden 36 der im vergangenen März gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der HDP festgenommen, gegen 15 von ihnen ist Haftbefehl ergangen. Die HDP hat am 31. März dieses Jahres die Wahlen in 65 Kommunen mit großem Abstand gewonnen. In sechs Kommunen konnten die gewählten Bürgermeister ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden trotz Wahlniederlage die AKP-Kandidaten zu Bürgermeistern. Bei den vom türkischen Innenministerium eingesetzten Zwangsverwaltern handelt es sich um ernannte Gouverneure und Landräte der Provinzen und Landkreise.

Die HDP hat gestern zu einer Sitzung in Ankara eingeladen, um eine Bilanz der aktuellen Lage zu ziehen und über eine gemeinsame Position zu den Geschehnissen seit der Kommunalwahl zu diskutieren. An der Sitzung nahmen alle gewählten Mandatsträger*innen teil. Als abschließendes Positionspapier wurde eine aus zwölf Punkten bestehende Deklaration veröffentlicht:

1- Es ist offensichtlich, dass die Türkei mittlerweile von einem Treuhandregime regiert wird. Die AKP hat den Putschversuch vom 15. Juli 2016 als Gelegenheit genutzt, im Ausnahmezustand einen politischen Coup zu inszenieren. Mit der MHP als Koalitionspartner unternahm die Regierung als erste Amtshandlung den Versuch, die Kommunalverwaltungen ihres Willens zu berauben. Tragende Pfeiler des Präsidialsystems sind ohnehin der politische Putsch und die Mentalität der Zwangsverwaltung.

Die Politik der Zwangsverwaltung ist wie Dynamit an der Basis der Koexistenz. Das Treuhandregime, das mit der Ablehnung der Ergebnisse zur Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 eingeleitet wurde und bis heute aufrechterhalten wird, beschränkt sich nicht lediglich darauf, den politischen Willen der Wählerinnen und Wähler zu ignorieren. Es handelt sich um die maßgebliche Politik der AKP/MHP-Koalition, die ihre soziale Legitimität verloren hat und mittels Gewalt und Unterdrückung ihre Selbsterhaltung bewahren will. Indem die AKP die Ergebnisse der Kommunalwahl vom 31. März 2019 nicht akzeptierte, räumte sie faktisch ihren Legitimitätsverlust ein. Eine auf der Mentalität der Zwangsverwaltung basierende Regierung stellt die größte Bedrohung für die Idee der Demokratie und die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft dar.

2-Die Praxis der Zwangsverwaltung gilt als ein feindseliger Zug gegen die Kurden. Diese Treuhandpolitik, die seit der Kommunalwahl mit voller Geschwindigkeit voranschreitet, missachtet den politischen Willen der kurdischen Bevölkerung und anderer Wählerinnen und Wähler aus der Region. Sie zielt darauf ab, sowohl das Gesetz als auch den Glauben an den gesellschaftlichen Frieden zu zerstören, der die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit bildet. Dies ist der Prototyp des Regimes, das etabliert werden soll. Wenn wir einen Blick auf die innen- und außenpolitischen Züge der Regierung werfen, erkennen wir, dass diese feindselige Haltung ganz offensichtlich lediglich das kurdische Volk betrifft.

3-Das aktive und passive Wahlrecht ist die wesentliche Voraussetzung für eine demokratische Funktionsweise. Sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch die türkische Verfassung garantieren dies. Die Usurpation des Wahlrechts bedeutet allerdings, diese Realität nicht anzuerkennen oder zu missachten. Bereits die Missachtung des Willens der Wählerinnen und Wähler in einer einzigen Provinz oder Stadt stellt die Entwürdigung des Willens der gesamten Gesellschaft dar.

4-Die lokale Demokratie ist die Wiege und das Fundament der Demokratie. Lokale Demokratie, das Verständnis von lokaler und dezentraler Selbstverwaltung ist für uns ein wesentliches Prinzip und unverzichtbares Ziel. Sie zählt zu den sichersten Garantien gegen jede Art von Despotismus. Ohne die lokale Demokratie können demokratische Rechte oder Freiheiten nicht wirklich gedeihen – das politische Leben würde im Wirbel der Zwangsverwaltung stecken bleiben. In diesem Sinne ist jeder ernannte Treuhänder ein deutlicher Schlag gegen die Demokratie und ein weiterer Schrit in Richtung Faschismus.

Mit Ausnahmezuständen, Putschversuchen gegen die demokratische Politik und der Zwangsverwaltung hat die AKP gezeigt, dass ihr Regime ein Glied in der Kette der Militärputsche ist, die ihr vorausgegangen sind.

5-Die demokratische, ökologische und frauen-libertäre Philosophie, die die Grundlage unseres Modells der lokalen Demokratie bildet, ist ein universelles Modell, welches das Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze ermöglicht.

Wir werden nicht zulassen, dass das System der Ko-Spitze, das seine Wurzeln und seinen emanzipativen Charakter in der Frauenbefreiung hat, zu einem Instrument für Manipulationen der Regierung wird. Die bewusste Anerkennung und Förderung geschlechtlicher Parität gehören zu den größten Schritten, die Frauen, die seit Jahren gegen Patriarchat, Monismus, Verleugnung und Unwissenheit kämpfen, in Richtung sozialer Transformation unternommen haben. Der Ko-Vorsitz ist unsere lila Linie und gehört zu unseren Prinzipien. Er ist die Voraussetzung für unseren Anspruch auf ein neues Leben. Mit dem Bewusstsein, dass das System der Doppelspitze - eine Errungenschaft des Kampfes von Frauen -  als erstes in die Schusslinie der Zwangsverwaltung geraten ist,  fordern wir jede demokratische Kraft, die ihre Zukunft in der Demokratie sieht, allen voran die Frauenbewegung, politische Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände, demokratische Massenorganisationen und Nichtregierungsorganisationen auf, angesichts der Angriffe auf diese Errungenschaft für das Prinzip der Doppelspitze einzutreten und es selbst anzuwenden.

6-Dass die Türkei von einem Treuhandregime regiert wird, das beabsichtigt, diese Regimeform auf alle Bereiche auszudehnen, verbergen selbst Regierungsvertreter nicht. Die immer wieder von der Regierung erwähnte Vision für das Jahr 2023 - hundert Jahre nach Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk soll die Türkei nach Erdoğan'scher Façon umgestaltet worden sein – ist nicht unabhängig von diesem Plan. Dieses Projekt, das darauf abzielt, das Parlament im Jahr 2020 und die Verfassung im Jahr 2021 bedeutungslos zu machen, bereitet sich darauf vor, den Erfolg des Regimes im Jahr 2023 zu verkünden.

Der Treuhandpolitik zu entgegnen bedeutet, dass alle demokratischen Kräfte Schulter an Schulter für die Verteidigung des Parlaments, der Verfassung, des Friedens zwischen den Völkern und vor allem der demokratischen Republik eintreten. Wir werden unser Paradigma einer demokratischen Republik verteidigen und gegen Krieg, Kolonialismus und Putsch am dritten Weg auf der Grundlage von Demokratie, universellem Recht und freier Politik festhalten, um die Probleme zu lösen, die sich seit Jahrhunderten angesammelt haben.

7-Die Politik der Zwangsverwaltung, die von der Regierung angewendet wird, um Gesetze zu missachten und den Machterhalt des Palasts zu sichern, hat ihre Quelle in der ‚Herrschaft von Ernannten’, die sich an das Ein-Mann-Regime anlehnt. Diese Verwaltungsmentalität, die die Öffentlichkeit systematisch ausschließt, verfolgt ihren Traum von einer Administration ohne ihr Volk. Es ist offensichtlich, dass dieser Ansatz das Wesen von Republik und Demokratie völlig unmöglich macht.

Dies geht aus einem Bericht vom September 2019 von Inspekteuren des Innenministeriums für die Provinz Mardin hervor. Darin wird vorgeschlagen, dass Stadträte gewählt werden können, Bürgermeister*innen aber vom Präsidenten ernannt werden sollten. Die ersten Schritte eines Systems, in dem Kommunalverwaltungen ihre Autonomie verlieren und an das Palast-Regime angebunden werden, werden in unseren Kommunen umgesetzt.

8-Wenn man die Treuhandpolitik nur als Angriff auf die HDP, ihre Kommunen und das kurdische Volk betrachtet, wird man sich der strategischen Pläne der Regierung nicht bewusst. Um diese Denkweise zum Erfolg zu führen, ist erforderlich, dass die politische und gesellschaftliche Opposition gänzlich zum Schweigen gebracht wird. Die Regierung nimmt uns ins Fadenkreuz dieser Angriffe, da der Kampf der HDP und des kurdischen Volkes das größte Hindernis auf dem Weg zu ihren Zielen ist. Die AKP/MHP-Koalition nimmt die lokale Selbstverwaltung ins Visier, um den Faschismus auf der Grundlage eines Ein-Mann-Regimes zu institutionalisieren. Die Ernennung von Treuhändern in HDP-geführten Rathäusern gehört zu den wichtigsten Schritten dieser Mentalität. Aus diesem Grund ist dies nicht nur für die HDP und das kurdische Volk ein Problem, sondern auch für jeden, der in diesem Land lebt und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden will.

Es ist offensichtlich, dass die AKP/MHP-Koalition ihre Zentralgewalt nutzen wird, um die wichtigsten Befugnisse aller Stadtverwaltungen, die ihre politische Macht und ihre unverdienten Einnahmen einschränken, an sich zu reißen und die Rathäuser in eine Erweiterung des Palastes umformen wird, während sich der Ausnahmezustand verstetigt und das Treuhandregime institutionalisiert wird.

9-Darüber hinaus ist das Treuhandregime eine Herrschaftsform, in der parteipolitisches Kapital durch gemeinsame, unverdiente Einnahmen gespeist wird. Die Treuhänder sind Mittel zum Zweck, die durch die Übertragung öffentlicher Gelder an regierungsnahe Stiftungen, Institutionen und Verbände den Aufbau der Finanzkraft des Regimes für 2023 vorantreiben.

Ein solches Regime kann seinen Status und seine Vorherrschaft nur durch Kriegspolitik und nationalistische Feindseligkeiten aufrechterhalten. Der Krieg, der in Nord- und Ostsyrien geführt wird, kann nicht als unabhängig von diesem Rahmen angesehen werden. Das Treuhandregime ist ein Kriegsregime. Der Kampf gegen Treuhänder ist ein Kampf für Frieden.

10-In verschiedenen Kreisen werden Meinungen zum Rückzug der HDP aus den Kommunen und dem Parlament geäußert. Dieser Vorschlag verdeutlicht, dass die Treuhandpolitik ausschließlich für die HDP und das kurdische Volk, dessen politischer Wille usurpiert wurde, ein Problem darstellt.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die HDP diese Gewinne nicht ohne weiteres erzielt hat. Das tyrannische Palastregime ist der größte Befürworter unseres Rückzugs von diesen Punkten, an die wir durch Opfer gelangt sind. Die Völker der Türkei haben in jüngster Zeit erlebt, dass gemeinsames Handeln Erfolg bringt, auch wenn die demokratische Politik viel an Boden verloren hat. Die Wahlen am 31. März und 23. Juni fanden in einer Zeit statt, in der das AKP/MHP-Regime als unbesiegbar galt und das autoritäre Regime einen Verlust erfuhr. Jetzt versucht diese Regierung, die Opposition durch Feindseligkeit gegen Kurden zum Schweigen zu bringen und unsere Gesellschaft mit Hilfe des Nationalismus zu polarisieren. Der einzige Weg durch diese schwierige Zeit besteht darin, den demokratischen Kampf zu stärken und unsere Fronten bis zum Ende zu halten. Das ist es, was die AKP/MHP-Regierung zur Niederlage führen wird.

Es ist unsere Pflicht, das, was die Bevölkerung trotz aller Repression und Unterdrückung mit ihrem Leben und ihrem Fleiß errungen hat, zu verteidigen. Der einzige Mangel in dieser Hinsicht, wenn von Mangel überhaupt gesprochen werden kann, besteht darin, die Errungenschaften nicht wirksam geschützt zu haben. Dies ist in erster Linie unsere Verpflichtung, aber auch die von allen, die ihre Stimmen nicht gegen dieses totalitäre Treuhandregime erheben. Die HDP ist heute mehr denn je bereit, eine Führungsrolle zu übernehmen.

11-Solange diese Frage nicht in diesem Sinne angegangen wird, ist unsere Entscheidung endgültig: Die HDP wird die Errungenschaften, die die Völker der Türkei, doch insbesondere das kurdische Volk unter großem Leid erreicht haben, nicht aufgeben. Trotz eines umfassenden, systematischen und vielschichtigen Angriffs in allen Lebensbereichen einschließlich der Kommunalverwaltungen, wird die HDP nicht nachgeben und ihren Kampf aus demokratischen und legitimen Gründen mit großer Entschlossenheit fortsetzen. Unser Ziel ist es, die demokratische Politik zu fördern und nicht zu überrollen.

Wir sind hartnäckig in unserem Verständnis und unserem unbeirrbaren Kampf für Demokratie. Wir zweifeln nicht eine Sekunde daran, dass das kurdische Volk ohne Wenn und Aber noch stärker für seinen eigenen Willen eintreten wird, selbst wenn wir morgen Neuwahlen hätten. Treuhänder mögen die Kommunalverwaltungen und ihre Einrichtungsgegenstände okkupieren, aber ihnen ist es nicht möglich, den Willen und die Gedanken der Bevölkerung zu dominieren. Unser Volk wird diese Praxis zu keinem Zeitpunkt akzeptieren. Unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter werden ihr Bestes geben, um ihre Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu erfüllen, die ihnen von den Wählerinnen und Wählern übertragen wurden. Unser Volk wird seinen Willen, seine gewählten Amtsträger*innen und seine Partei wie bisher schützen. Mit uns gemeinsam wird das Volk den Kampf fortsetzen und Widerstand gegen die Ungerechtigkeit leisten.

12-Unser Aufruf an die Öffentlichkeit: Der Aufbau einer Demokratie, die Verteidigung unserer Errungenschaften und neue Erfolge sind nur durch den kollektiven Kampf der demokratischen Kräfte möglich. Wie wir bereits bei den letzten Kommunalwahlen gesehen haben, können wir gemeinsam das Treuhandregime und das Ein-Mann-Regime stoppen und verhindern. Mit totalem Widerstand und zivilem Ungehorsam können wir unseren Kampf stärken.

An die internationale Öffentlichkeit: Das von Erdogan geplante autoritäre Regime haben zunächst Kurdinnen und Kurden zu spüren bekommen. Zuerst wurde die Opposition durch Angriffe auf gewählte Mandatsträger*innen der Kurden und ihrer Sprache durch vermeintliche Sicherheitsbedenken zum Schweigen gebracht. Danach verbreiteten sich diese Repressionsinstrumente in der gesamten Türkei. In diesem Zusammenhang sind die antidemokratischen Praktiken nicht mehr nur auf die Kurdinnen und Kurden beschränkt und haben sich in fast allen Teilen des Landes ausgebreitet.

Das politische Bild der Türkei hat heute das Potenzial, das Böse zu popularisieren und andere Regionen damit zu infizieren. Ein unanfechtbarer Beweis dessen ist die Tatsache, dass Erdogan, einer der Hauptgründe für die Intensivierung des Krieges in Syrien, Flüchtlinge benutzt, um den Westen zu erpressen.

Eine erwartungsvolle Haltung kann keine der demokratischen Politik sein, sondern die der regierenden Mächte! Wir rufen die internationale Öffentlichkeit auf, uns bei der Wahrung demokratischer Werte gegen diejenigen zu unterstützen, die die Türkei weiter destabilisieren wollen, und ihre Stimme gegen das zu erheben, was der HDP widerfährt.

Unsere Forderung an die AKP/MHP-Koalition: Wie uns schon die Wahlen vom 31. März und 23. Juni zeigten, kann diese Regierung, die die Unterstützung der Massen und ihre soziale Legitimität verloren hat, auf illegale Methoden zurückgreift und mit dem Prinzip der Zwangsverwaltung den Willen der Bürger usurpiert hat, diese Gesellschaft nicht länger regieren. Wir fordern daher vorgezogene Neuwahlen, um die Völker der Türkei von der Autorität der AKP/MHP zu befreien. Dies ist eine Kampfansage. Wir fordern Sie heraus! Wir rufen alle Oppositionellen auf, sich der Forderung nach vorgezogenen Wahlen anzuschließen und gemeinsam zu handeln.

Ohne jeden Zweifel stehen wir an der Morgendämmerung des Tages, an dem wir unabhängig von unserer Identität oder Religion unserer historischen Verantwortung nachkommen müssen. Diese Verantwortung ist viel zu wertvoll, als dass man sie an politische Argumente, Sicherheitsbedenken oder billige politische Motive verlieren könnte. Mit diesem Geist und Bewusstsein rufen wir als HDP alle Bürgerinnen und Bürger, alle Oppositionsparteien innerhalb und außerhalb des Parlaments, die Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Berufsverbände und demokratische Vereine, deren Maxime Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit lautet, zu Solidarität und zum vereinten Kampf gegen die repressive und faschistische Mentalität als Demokratieblock auf.