Gurgum – Geschichte einer nordkurdischen Region II
Im zweiten Teil der Reportage über die Geschichte der nordkurdischen Region Gurgum geht es um die osmanische Herrschaft und den Widerstand der alevitisch-kurdisch-türkischen Bevölkerung der Region.
Im zweiten Teil der Reportage über die Geschichte der nordkurdischen Region Gurgum geht es um die osmanische Herrschaft und den Widerstand der alevitisch-kurdisch-türkischen Bevölkerung der Region.
Wie bereits im ersten Teil der Serie zur Geschichte der Region Gurgum (tr. Maraş) beschrieben, war die Region immer wieder ein Fokus des Widerstands gegen Besatzung und Assimilation. Bereits 1239 erschütterte der alevitische Babai-Aufstand die islamisch-konservativ Herrschaft der seldschukischen Besatzer. Er leitete den Zusammenbruch der seldschukischen Vorherrschaft ein.
Der Beginn der osmanischen Besatzung
Zwischen 1298–1522 geriet die Region unter der von den Mameluken abhängigen Herrschaft des in Elbistan ansässigen turkmenischen Fürstentums von Dulkadiroğul. Während der Zeit des Dulkadiroğlu-Fürstentums schlugen sich die Kizilbaş/Aleviten auf die Seite des persischen Schahs Ismail, um den Kampf gegen den für seine alevitenfeindliche Haltung berüchtigten osmanischen Sultan Yavuz Selim zu unterstützen. Schah Ismail wurde 1514 bei Tschaldiran (Caldiran/Ebex) vernichtend geschlagen. Daraufhin ging das osmanische Reich auch gegen die Fürsten von Dulkadiroğlu vor und besiegte diese 1515. Die Region fiel 1520 ans Osmanische Reich.
Widerstand und Unterdrückung unter osmanischer Herrschaft
So wie die Bevölkerung von Gurgum bereits gegen die Islamisierung Widerstand geleistet hatte, verweigerte sich die Gesellschaft erneut, ihre eigene Struktur aufzugeben. Auch mit der Besatzung war es dem osmanischen Reich nicht möglich, die Gesellschaft in Gurgum tiefgreifend zu verändern. Die Unterstützung von Schah Ismail hatte in der Geschichte der alevitischen kurdisch-türkischen Gemeinschaft der Region einen tiefgreifenden Eindruck hinterlassen. Nach der Besetzung durch die Osmanen rebellierte die alevitisch-kurdisch-turkmenische Bevölkerung in dem Bestreben, seine Freiheit zu bewahren, immer wieder gegen die endlose Unterdrückung durch den Staat. Aus diesem Grund wurden viele alevitische kurdisch-türkische Aufstände entweder von Gurgum und seiner Umgebung aus organisiert oder die aufständischen Kräfte stützten sich auf die gesellschaftliche Struktur der Region und große Teile der Bevölkerung zogen sich in die Berge zurück. Die Osmanen wendeten eine „Teile und herrsche"-Strategie an und versuchten, die kurdischen Stämme auf ihre Seite zu ziehen.
Bevölkerung lebte ihre Autonomie trotz Unterdrückung
So sehr auch die Osmanen versuchten, ihre Herrschaft in allen Bereichen durchzusetzen, lebten die kurdischen und turkmenischen Alevit:innen wie auch die anderen Identitäten der Region weiter in ihren eigenen religiösen und politischen Strukturen faktisch autonom. Dies führte zu immer brutalerer Repression der osmanischen Herrscher und zu eine Vielzahl von Aufständen wie dem Alevi- und dem Celali-Aufstand 1527. Kalender Celebi führte einen großen alevitischen Aufstand an, der einen wichtigen Fokus in Gurgum hatte. Er zog sich mit seinen Widerstandskräfte auf das Nurhaq-Massiv in Gurgum zurück und fiel dort. Die als Celali-Aufstand in die Geschichte eingegangenen Erhebungen hatten das Osmanische Reich tiefgreifend erschüttert. Aufgrund des massiven Repression gab es bereits zu dieser Zeit starke alevitische Migrationsbewegungen, unter anderem in Richtung Sivas und Çorum.
Vernichtungsoperation nach französischem Vorbild
1865 stellte das Osmanische Reich eine Spezialtruppe im Rahmen der Operation „Fırka-i Islahiye“ extra für die Durchsetzung der religiösen und politischen Hegemonie in der Region und den umliegenden Provinzen auf. Diese war Teil des am französischen Nationalstaat orientierten Islahiye-Reformprogramms, das eine starke Zentralisierung des osmanischen Reichs vorsah. Diese Zeit der Massaker an den Völkern und Glaubensrichtungen ab 1865 ist als die „Zor Nisam“ in die Geschichte eingegangen. Ein zentrales Moment der Operation „Firka-i Islahiye“ war die Zwangsumsiedlung und Ansiedlung der nomadischen Bevölkerung, um ihre Kontrolle und Assimilation durchzusetzen und den Zwangsmilitärdienst auf diese Gruppen auszudehnen. Das Osmanische Reich betrieb eine massive Siedlungspolitik in der Region. So wurden in 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Gurgum viele Tscherkess:innen angesiedelt, die vor dem Genozid durch das russische Zarenreich geflohen waren. Auf diese Weise gelang es dem Staat, der Bevölkerung und den alevitischen Stämme zu einem gewissen Grad seine Herrschaft aufzuzwingen.
Genozid an den Armenier:innen in Gurgum
Die vom osmanischen Staat als Fırka-i İslâhiye bezeichnete Sonderarmee hatte außerdem den Zweck, die armenische Bevölkerung von Zeytun in Gurgum zu brechen und sie zur Aufgabe zu zwingen. Die armenische Bevölkerung war jedoch vorbereitet und organisiert. So konnte die Spezialtruppe zunächst nicht gegen die Armenier:innen vorgehen. Dieser Rückzug war jedoch nur ein vorübergehender Erfolg. Wie bekannt ist, verübten die Komitees für Einheit und Fortschritt mit deutscher Unterstützung 1915 einen Genozid an den Armenier:innen und der übrigen christlichen Bevölkerung der Region. Die Existenz von Armenier:innen wurde nicht nur in Gurgum, sondern in den meisten Gebieten des Osmanischen Reiches praktisch ausgelöscht. Zehntausende Armenier:innen wurden aus Gurgum-Zeytun und den benachbarten Dörfern deportiert und in den Tod geschickt.
„Befreiung“ von Gurgum – zweiter Genozid
Im Jahr 1920 verübte der Staat unter kemalistischer Regie mit Hilfe von Großgrundbesitzern in Gurgum einen weiteren Genozid an der armenischen Bevölkerung von Zeytun. Mit diesem Genozid wurde von türkischen Historikern eine fiktive Geschichte von der „Befreiung von Maraş“ geschaffen und zu Motivations- und Propagandazwecken verwendet. So errangen die Kemalisten einen billigen Sieg und ebneten den Weg für die Errichtung des türkischen Staates. Die Eliten von Gurgum bereicherten sich durch die Beschlagnahmung des Vermögens der Armenier:innen. Bei diesem Völkermord, der als „Befreiungskrieg“ gegen die französische Besatzung dargestellt wurde, wurden 20.000 bis 30.000 Armenier:innen ermordet, während einige hundert französische Besatzer ums Leben kamen. Daher ist die Charakterisierung dieses Vorgehens als zweiter Genozid an den Armenier:innen durchaus zutreffend. Dass Gurgum 1973 mit Bezug auf die Ereignisse von 1919/20 vom türkischen Staat den Titel „Heldenhaftes Maraş“ (Kahramanmaraş) verliehen bekam, dessen volle Nennung heute noch als Loyalitätsbekundung mit dem Staat dient, ist in diesem Rahmen bezeichnend.
Siedlungspolitik wird fortgesetzt
Zur Zeit des Völkermords an den Armenier:innen fand gleichzeitig eine massive Siedlungspolitik statt. So wurden „Turkvölker“ vom Balkan und aus Mazedonien in die Region gebracht und an Stelle der armenischen Bevölkerung unter anderem in Zeytun angesiedelt.