Im nordkurdischen Landkreis Elbistan der Provinz Gurgum (tr. Maraş) befand sich das Epizentrum des Erdbebens mit bisher weit über 40.000 Toten. Der ganze Landkreis liegt in Trümmern.
Die Zivilgesellschaft, Freiwillige der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Minenarbeiter, linke Organisationen und Parteien wie Partizan und TIP versuchten bereits am ersten Tag, Hilfe zu organisieren. Seit dem Eintreffen der staatlichen Kräfte im Erdbebengebiet häufen sich Berichte, dass der Staat Hilfsarbeiten regelrecht sabotiert.
Rettung trotz AFAD
Einer der Bergleute, die an den Rettungsaktionen teilgenommen haben, erzählte, dass er mit einer Gruppe von Kollegen bereits in den ersten Tagen einen Vater und seine Tochter entgegen dem Widerstand von Vertretern der Katastrophenschutzbehörde AFAD gerettet hätten. AFAD habe behauptet, in dem Haus habe niemand überlebt, und versucht, die Rettungsarbeiten zu verhindern. Die Minenarbeiter setzten sich jedoch durch und befreiten die beiden Verschütteten. Ein anderer Bergarbeiter berichtete, dass sich AFAD aufgrund der Rettungsaktionen der Minenarbeiter an die Polizei gewandt habe, und sie aus dem Gebiet mit Gewalt entfernt worden seien. So seien sie an der Rettung von weiteren Menschenleben gehindert worden.
„AFAD und Polizei sind dafür verantwortlich, dass Menschen erfrieren“
Ein HDP-Freiwilliger, der ab dem zweiten Tag an den Such- und Rettungsmaßnahmen teilnahm, erklärte, dass Geräusche aus mehreren Gebäuden zu hören waren. Sie hätten die Geräusche lokalisieren können und damit begonnen, sich zu den Opfern durchzugraben, als sie von der Polizei mit Gewalt vertrieben worden seien. Ein anderer HDP-Freiwilliger macht die staatlichen Kräfte für die Zunahme der Zahl der Todesopfer verantwortlich und berichtet, sie hätten der Polizei gesagt, dass sie bereits den Zugang zu den Verschütteten geöffnet hätten, es daher besonders kalt unter den Trümmern sei und die Menschen dort erfrieren würden. „Aber sie hörten nicht zu“, erklärte er. „Die meisten Menschen sind erfroren. Die staatlichen Kräfte kamen, machten Fotos und gingen wieder.“
Der HDP-Freiwillige wies darauf hin, dass die Temperatur in Elbistan nachts auf bis zu minus 25 Grad Celsius falle. Die meisten Todesfälle in der Stadt seien auf das kalte Wetter zurückzuführen, nachdem AFAD und die Polizei Freiwillige daran gehindert hätten, sich an Such- und Rettungsaktionen zu beteiligen.
„Wir versuchten vom ersten Tag an, den Menschen zu helfen“
Gegenüber ANF berichtete einer der Freiwilligen aus Elbistan: „Vom ersten Tag an versuchte die HDP, den Menschen trotz aller Mängel Hilfe zukommen zu lassen. Diese Bemühungen wurden am zweiten Tag noch besser organisiert. Die Anwesenheit der HDP hat verhindert, dass die Menschen auf den Straßen erfroren sind. Die meisten Menschen hier sind alt, sie können nicht in der Kälte überleben, in Elbistan herrschen nachts unter minus 20 Grad Celsius. Die HDP öffnete die Türen des Gemeindehauses und stellte den Menschen einen warmen Ort zur Verfügung.“
„Mit dem Militär hätten hier Tausende gerettet werden können“
Metin Karabulut ist als Helfer über die HDP aus Dersim nach Elbistan gekommen. Er berichtete: „Als ich ankam, war die Situation sehr schlimm, es schneite ständig. Viele Menschen standen hungrig auf der Straße. Es war noch keinerlei Hilfe angekommen. Am ersten Tag begann unser Hilfsteam mit der Arbeit, und am zweiten Tag wurden Versorgungsgüter mit fast 300 Fahrzeugen in die Region gebracht. Obwohl unsere Arbeit bisher nicht so gut ist, wie wir es uns gewünscht hätten, nützt sie doch. Es gibt auch Unzulänglichkeiten.“
Karabulut wirft dem Staat vor, sich bewusst nicht gekümmert zu haben: „Der Staat hat eine Armee, aber sie wurde nicht eingesetzt, um den Menschen zu helfen. Ist das Militär nur dafür da, um gegen das Volk eingesetzt zu werden? Mit dem Militär hätten hier Tausende von Menschen gerettet werden können. Wird das Militär nur für den Krieg eingesetzt? Wird es nicht eingesetzt, um die Menschen am Leben zu erhalten?“
In Nordkurdistan sind unzählige Soldaten stationiert, so auch in Elbistan. Das Militär leistet jedoch keinerlei Hilfe. Mittlerweile ist das Militär in Elbistan eingerückt. Bewohner:innen berichten, dass keine Rettungsaktionen durchgeführt würden, stattdessen würden Opfer als „Plünderer“ beschuldigt und misshandelt und bedroht.
10.000 Menschen sollen in Elbistan gestorben sein
Ein anderer Freiwilliger der HDP berichtete, dass die Zahl der Todesopfer allein in Elbistan bei über 10.000 liegt. Über die Situation vor Ort erklärte er: „Die Stadtverwaltung von Elbistan (AKP) war drei Tage lang abwesend. Am dritten Tag haben sie die Toiletten gereinigt. Nachts wird es bis zu minus 25 Grad kalt. Die Gefahr von Seuchen hat zugenommen. Die Stadtverwaltung brachte am dritten Tag einen Tankwagen mit Wasser, dann nicht mehr. Das Krankheitsrisiko ist gestiegen. Die HDP beteiligte sich vom ersten Tag an den Such- und Rettungsaktionen. 3.000 Freiwillige sind gekommen, um zu helfen.“ Nur stellenweise sei eine Koordination mit AFAD möglich gewesen.
„Der Staat hat die Menschen hier vollkommen allein gelassen“
Ein Freiwilliger aus Amed erzählte: „Als HDP-Freiwillige sind wir seit fünf Tagen hier. Die meisten der zerstörten Häuser sind Neubauten. Der Staat hat diesen Ort völlig im Stich gelassen. Wir verteilen Hilfe, ohne eine Seite zu bevorzugen. Der Staat ist davon sehr beunruhigt. Er wendet sich an den Vorstand des Cem-Hauses und versucht, uns mit Worten wie ‚werden die nicht mal müde‘ wegzuschicken. Er fühlt sich von unserer Arbeit gestört und will nicht, dass wir hier helfen. Wenn der Staat unparteiisch geholfen hätte, hätten viel mehr Menschen gerettet werden können.“
Helfer aus Frankreich
Ein aus Elbistan stammender Helfer ist aus Frankreich angereist. Er sei mit dem erstmöglichen Flugzeug gekommen und habe in Elbistan nur Freiwillige der HDP und revolutionärer Organisationen angetroffen, berichtete er: „Ich stamme aus dem Dorf Güçük in Elbistan. Ich bin aus Frankreich eingereist, um Hilfe zu leisten. Ich bin seit dem zweiten Tag nach dem Erdbeben hier. Im Cem-Haus in Elbistan und an zwei weiteren Stellen gibt es Lager mit Hilfsgütern der HDP. Wir verteilen von dort aus Zelte, Nahrungsmittel und alles mögliche weitere. Ich bin mit Hilfe von alevitischen Vereinen hierhergekommen."
„Wir besuchten die Gebiete, in denen der Staat nicht geholfen hat“
Mitglieder von Partizan, die ihre Arbeit mit der HDP koordinieren, ziehen von Dorf zu Dorf. Sie erzählten über ihre Arbeit: „Wir verteilen die auf Aufruf der HDP gesammelte Hilfe an bedürftige Familien. Wir sind in die Dörfer gegangen. Wir besuchten Gebiete, in denen der Staat in keiner Weise hilft, und wir teilten den Schmerz der Menschen. Wir haben den Menschen das Gefühl gegeben, dass sie nicht allein und hilflos sind. Als Partizan wurden wir in Gruppen eingeteilt, eine Gruppe sortierte die Materialien, die mit der HDP im Depot eintrafen, während eine andere Gruppe mit Fahrzeugen in die Stadtteile und Dörfer fuhr.“