Ein Krieg gegen die NATO

Wie fühlt es sich an, Mitglied einer Gesellschaft zu sein, deren Ressourcen und Würde von wechselnden Regierungen und der Staatsbürokratie für die menschenverachtende, zerstörerische NATO-Politik geopfert werden?

Worauf die NATO sich heute in Osteuropa noch mit riesigen Manövern vorbereitet, lässt sie seit Jahrzehnten im Mittleren Osten ernst werden – Krieg. Unter Führung der USA intervenieren die NATO-Mitglieder in praktisch allen Ländern der Region. Das Spektrum der Interventionen reicht von Stellvertreterkriegen mithilfe islamistischer Gruppen (ab den 1970er Jahren in Afghanistan gegen die Sowjetunion) bis zur direkten Kriegsbeteiligung von NATO-Ländern wie im Irak oder in Kurdistan. In dieser Tradition steht auch die aktuelle Invasion der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien. Ohne die Zustimmung der entsprechenden NATO-Gremien und die wirtschaftlich-militärische Unterstützung der NATO-Partner würde die Türkei heute keinen Krieg in Kurdistan führen können. Wollen wir die aktuellen Entwicklungen in Kurdistan richtig verstehen, ist es daher wichtig uns zwei Dinge in Erinnerung zu rufen: Zum einen benutzt die NATO die Türkei als militärisch-politische Marionette, um Chaos im Mittleren Osten zu stiften. Zum anderen geht es dabei um die Region als Ganzes, d.h. die einzelnen NATO-Kriege isoliert voneinander zu betrachten, wäre falsch.

Die NATO-Strategie in Kurdistan

Diese beiden Wahrheiten gelten insbesondere für die Entwicklungen in Kurdistan. Was vor 100 Jahren noch einzelne Großmächte wie Großbritannien, Frankreich oder Russland bei Bedarf miteinander verabredeten, koordiniert die NATO seit ihrer Gründung vor 70 Jahren kontinuierlich unter Beteiligung dutzender Staaten – die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Kurdinnen und Kurden. Ihre Politik baut auf dem Geist des Vertrages von Lausanne (1923) auf, als dessen Folge Kurdistan der Besatzung durch vier Nationalstaaten ausgeliefert wurde, und verstärkt die Zerstückelung heute immer weiter. Die faktische Trennung Südkurdistans (Nordirak) in die Einflussgebiete des Barzani- und des Talabani-Clans, die Besatzung des nordsyrischen Kantons Efrîn seit März 2018, der jüngste Krieg in der Region um Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) oder die Staudammpolitik in Nordkurdistan (Südosttürkei) – all diese Maßnahmen geschehen entweder mit direkter Beteiligung der NATO oder werden von ihr stillschweigend hingenommen. Ziel ist die Zerstückelung Kurdistans in kleinste Teile, um eine Einheit der Kurdinnen und Kurden zu verhindern und ihren Widerstand zu brechen.

Die NATO-Politik in Kurdistan steht heute nicht nur in Tradition historischer politischer Abkommen wie Lausanne, sondern wendet militärische Strategien an, die imperialistische Mächte seit gut 200 Jahren in der Region verfolgen. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fiel die griechische, assyrische und armenische Bevölkerung einer Vertreibungs- und Völkermordpolitik zum Opfer. Auf den Trümmern dieser Politik entstanden dutzende Nationalstaaten in der Region. Heute, rund 100 Jahre später, ringen sich die Parlamente Frankreichs, Deutschlands oder der USA langsam dazu durch, den Völkermord an den Armeniern als das anzuerkennen, was er war. Gleichzeitig hat die aktuelle NATO-Strategie in Kurdistan genau das zur Folge, was in den Hauptstädten des Westens bezüglich des armenischen Volkes verurteilt wird – Völkermord.

Die praktische Umsetzung der geographischen Zerstückelung Kurdistans und der Völkermordpolitik an den Kurdinnen und Kurden hat die NATO primär der Türkei übertragen. Duran Kalkan, Mitglied im Leitungskomitee der PKK, brachte das in einem Interview am 16. Dezember wie folgt auf den Punkt: „Nicht der türkische Staat oder die türkische Armee kämpfen seit 35 Jahren gegen die PKK und die Guerilla Kurdistans. Die NATO führt diesen Krieg. Die Guerilla leistet dementsprechend seit 35 Jahren Widerstand gegen die NATO. Sie führt einen Krieg gegen die NATO.“ Kalkans Bewertung basiert auf jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen. Kriegstechnologie, Geheimdienstinformationen, politische Legitimität, Geld oder Unterstützung für die psychologische Kriegsführung – all das stellt die NATO der Türkei seit Jahrzehnten uneingeschränkt zur Verfügung. Heute ist die Türkei auf eigenem Staatsgebiet, im Nordirak und in Nordsyrien tagtäglich direkt in einen Krieg gegen kurdische Selbstverteidigungskräfte verwickelt. Die Gründe dafür, dass der türkische Staat sich heute derart umfassend für die NATO-Mittelostpolitik einspannen lässt, gehen historisch bis zur Staatsgründung zurück und fußen u.a. in der extrem homogenen türkischen Staatsideologie. Das Ergebnis ist eine Türkei, die mit NATO-Militärtechnologie und einer internationalen Söldnerarmee islamistischer Fundamentalisten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Mittleren Osten führt. Die türkischen Angriffe – und damit die NATO-Strategie in Kurdistan – richten sich gegen jegliche Erfolge, die die kurdische Bevölkerung auf dem Weg zur Umsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts erzielt. Die PKK und die Ideen Abdullah Öcalans stellen das Hauptziel all dieser Angriffe dar, da sie seit Jahrzehnten den Willen der Kurdinnen und Kurden zur Selbstbestimmung u.a. politisch und militärisch am wirkungsvollsten organisieren. Hinzu kommt, dass mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien seit Jahren ein praktisches Beispiel der Selbstverwaltung besteht, das über ethnisch-religiöse Grenzen hinausgeht. Das Recht auf Selbstbestimmung wird in diesem Rahmen auch von der arabischen, assyrischen, turkmenischen und tscherkessischen Bevölkerung umgesetzt – und zwar konträr zur Spaltungs- und Völkermordpolitik der NATO.

Eine Frage der Moral

Die zentrale Verantwortung der NATO für den Krieg in Kurdistan und das allgemeine Chaos im Mittleren Osten macht deutlich: Widerstand dagegen ist eine moralische Frage im Eigeninteresse all der Gesellschaften, deren Staaten Mitglieder der NATO sind. Natürlich ist es richtig, die Situation der kurdischen Bevölkerung zu beklagen und ihr mit aller Kraft beizustehen. Doch mindestens genauso wichtig ist es zu erkennen, was beispielsweise die Beteiligung Deutschlands in der NATO für Konsequenzen für die deutsche Gesellschaft hat. Es geht dabei nicht nur um all die materiellen Verluste, die der Gesellschaft Deutschlands durch Rüstungsproduktion, Kriegseinsätze etc. im Rahmen der NATO-Politik entstehen. Noch wichtiger ist der moralische Aspekt. Um es mit einer Frage zu formulieren: Wie fühlt es sich an, Mitglied einer Gesellschaft zu sein, deren Ressourcen und Würde von wechselnden Regierungen und der Staatsbürokratie für die menschenverachtende, zerstörerische NATO-Politik geopfert werden? Können wir in Deutschland akzeptieren, dass in unserem Namen, mit unserem gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum in Kurdistan Vertreibung und Völkermord begangen werden? Die allermeisten Menschen werden ähnlich auf diese beiden exemplarischen Fragen antworten. Denn Moral ist etwas, das jeder von uns in sich trägt, ob mehr oder weniger ausgeprägt.

Was also tun mit unserer klaren moralischen Haltung gegen Vertreibung und Völkermord? Es gibt Menschen wie Konstantin (Andok Cotkar), Michael Panser, Sarah Handelmann oder Jakob Riemer, die sich direkt auf den Weg nach Kurdistan gemacht und dort ihr Leben für den Widerstand eingesetzt haben. Sie haben moralische Werte in ihre Art zu leben übersetzt und wurden von einer NATO-Armee – in diesem Fall der türkischen – ermordet. Ihre moralische Haltung ist eine Inspiration für all die anderen Menschen aus Deutschland, die sich wie sie auf den Weg nach Kurdistan gemacht haben oder dies bald tun werden. Es gibt aber auch viele Menschen, die in Deutschland selbst nicht mehr anders können, als ohne Angst und Zweifel gegen die NATO-Kriege unter deutscher Beteiligung vorzugehen. Auch ihre Basis sind grundlegend menschliche moralische Überzeugungen. Wenn es ihnen in Deutschland selbst gelingt, genauso mutig und mitreißend wie Sarah oder Jakob Widerstand zu leisten, ist das mehr als bedeutend. Letztendlich geht es darum heute in Deutschland praktisch Waffenproduktion bzw. -exporte und wirtschaftliche Kooperation mit der Türkei zu behindern. Zugleich müssen die eigenen Familien und Verwandten, Freundinnen und Freunde für den hohen moralischen und materiellen Preis sensibilisiert werden, den die deutsche NATO-Beteiligung an Kriegen wie in Kurdistan für die deutsche Gesellschaft darstellt. Gelingt all das, wird die Gesellschaft beginnen, die Beteiligung Deutschlands an Vertreibung und Völkermord in Kurdistan zu hinterfragen und zu behindern.


*Arif Rhein ist Mitarbeiter des in Berlin ansässigen Vereins Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.