Wie lenkt man am geschicktesten von eigenen Verbrechen ab? Insbesondere, wenn man sich an der Destabilisierung einer ganzen Region wie dem Mittleren Osten mitschuldig macht – inklusive der Zerstörung ganzer Länder wie Afghanistan, Irak oder Syrien. Die jüngste Empörungswelle über die Äußerungen des türkischen Innenministers Süleyman Soylu oder die Ausweisung deutscher Journalisten stehen sinnbildlich für die ununterbrochenen Bemühungen der deutschen Bundesregierung, von der direkten Verwicklung in die Kriegs- und Vertreibungspolitik des Erdogan-Regimes in der Türkei und benachbarten Ländern abzulenken. Statt über die Folgen des EU-Flüchtlingsdeals oder die 700 deutschen Leopard2-Panzer in der Türkei zu sprechen, gibt sich die deutsche Politik damit zufrieden, alle paar Monate einzelne Missstände in der Türkei zu bemängeln. Problematisch ist dabei nicht die Kritik an sich, sondern der Umstand, dass die Regierung dem keinerlei praktische Taten folgen lässt und die deutsche Verwicklung in die türkischen Menschenrechtsverbrechen verdeckt bleibt.
Der türkische Innenminister spricht Klartext
Wenige Wochen vor den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März fallen türkische Regierungsvertreter vermehrt mit nationalistischen und kriegstreiberischen Äußerungen auf. Der türkische Innenminister Soylu drohte vor wenigen Tagen damit, gemeinsam mit dem Iran gegen PKK-Stellungen im nordirakischen Kandil-Gebirge vorzugehen. Wenige Tage später richtete Soylu seinen Blick auf Deutschland und drohte Teilnehmern regierungskritischer Demonstrationen, insbesondere vermeintlichen Anhängern der PKK: „Da gibt es jene, die in Europa und in Deutschland an den Veranstaltungen der Terrororganisation teilnehmen und dann in Antalya, Bodrum und Muğla Urlaub machen. Von nun an wird es nicht mehr so einfach sein, draußen Verrat zu begehen, und sich dann in der Türkei amüsieren.“ Damit wird offen ausgesprochen, was für Regierungskritiker aus der Türkei in Deutschland schon seit Jahrzehnten Realität ist. Immer wieder wird darüber auch in deutschen Medien berichtet. Der türkische Geheimdienst MIT hat laut Medienberichten tausende Informanten in Deutschland, deren Aktivitäten von der Informationssammlung über offene Drohungen reichen. Auch vor Mordplänen gegen kurdische Politiker wie den Ko-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbandes KCDK-E, Yüksel Koc, schreckt der MIT in Deutschland nicht zurück. Vor diesem Hintergrund erscheinen die aktuellen Drohungen des türkischen Innenministers wie die Fortsetzung einer langen Geschichte der Verfolgung von Regierungskritikern außerhalb der Türkei.
Die deutsche Politik zeigt sich entsetzt
Zahlreiche Stimmen aus der deutschen Politik meldeten sich nach Soylus Rede umgehend zu Wort und kritisierten die Drohungen aus der Türkei. Neben dem früheren Grünen-Chef Cem Özdemir, der von „unverhohlenen Drohungen“ sprach, wies auch der Vizefraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Thorsten Frei, die Worte Soylus zurück und sprach davon, es sei „inakzeptabel, wenn die Türkei in Deutschland mit nachrichtendienstlichen Mitteln auch deutsche Staatsbürger ausspioniert und deren staatsbürgerliche Freiheiten in Deutschland einschränken will“. Aus dem Innenministerium hieß es: „Die Türkei ist gut beraten, die Äußerungen ihres Innenministers in der Sache rasch richtig zu stellen. Sie würden ansonsten natürlich erhebliche Auswirkungen auf den europäischen Tourismus in die Türkei haben und wären ein erneuter Beleg dafür, wie weit sich die Türkei von Europa entfernt hat.” Bei all den scharfen Zurückweisungen aus Berlin kann der Eindruck entstehen, die deutsche Politik sei ernsthaft um die Situation in der Türkei besorgt. Die Sorge um die Sicherheit eigener Staatsbürger mag man noch für plausibel halten, doch auf den notwendigen Druck aus Berlin, um die Türkei im Umgang mit ihrer eigenen Bevölkerung und ihren Nachbarstaaten zur Beachtung rechtsstaatlicher und demokratischer Mittel zu bewegen, warten Beobachter seit Jahren vergeblich.
Der NATO-Partner Türkei als Blitzableiter
Wenn es nicht um ein tatsächliches Ende der Menschenrechtsverbrechen und staatlichen Willkür in der Türkei geht, worum dann? Die aktuelle Aufregung um die Äußerungen Soylus scheinen einem anderen Zweck zu dienen. Angesichts des unbefristeten Hungerstreiks der HDP-Abgeordneten Leyla Güven, dem sich seit dem 7. November 2018 zahlreiche Kurden u.a. in Straßburg, Kassel, Nürnberg und Duisburg angeschlossen haben, gerät auch die deutsche Bundesregierung zunehmend in Erklärungsnot. Die Hungerstreikenden fordern, dass Abdullah Öcalan regelmäßig Zugang zu seinen Anwälten und Familienangehörigen erhält. Dahinter steht die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage im Mittleren Osten, für die sich Öcalan einsetzt. Auf zahlreiche parlamentarische Anfragen im Bundestag, öffentliche Aufrufe und Großdemonstrationen wie jene in Köln vor knapp zwei Wochen reagierte die Regierung bisher mit nichtssagenden bis offen ablehnenden Äußerungen. Die aktuelle Debatte um türkische Drohungen gegenüber deutschen Urlaubern dient in diesem Kontext gleich zweierlei Zielen. Zum einen wird der Eindruck erweckt, man gehe den türkischen Partner für seine Missachtung menschenrechtlicher und demokratischer Prinzipien hart an. Zum anderen wird eine Scheindebatte geführt, von der die eigentlich drängenden Fragen in den deutsch-türkischen Beziehungen unberührt bleiben. Offene Fragen gäbe es zu genüge zu diskutieren: Wie steht es um die Aktivitäten der über 7000 deutschen Unternehmen in der Türkei, die unter dem Erdogan-Regime weiterhin Investitionen tätigen und zehntausende Menschen beschäftigen? Wie ist es um den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei beschaffen, an der auch der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall beteiligt ist? In welchem Umfang kooperieren deutsche und türkische Sicherheitsbehörden beim sogenannten „Kampf gegen den Terrorismus“? Viele weitere Fragen könnten hinzugefügt werden. Die Antworten würden einen Eindruck von der anhaltenden und umfassenden Zusammenarbeit der deutschen und türkischen Regierung vermitteln. Und sie würden zeigen, dass deutsche Unternehmen, die Polizei, der BND und Waffenfabriken direkt mit der Türkei zusammenarbeiten. Wie sensibel man in Deutschland auf den Vorwurf reagiert, direkt in die Verbrechen der türkischen Diktatur verwickelt zu sein, wurde zu Beginn des türkischen Einmarsches in dem nordsyrischen Kanton Afrin deutlich. Nur wenige Tage nach dem Beginn der Invasion türkischer Soldaten und tausender islamistischer Kämpfer verwehrte sich der Chef des einflussreichen Berliner Think-Tanks Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, gegen den Eindruck, Deutschland sei an dem Krieg beteiligt: „Wir haben zwar Waffen an einen Nato-Partner geliefert. Aber damit ist man doch nicht automatisch Kriegspartei. Anderenfalls wären wir ja Bestandteil noch einiger weiterer Konflikte in der Welt.“ Andernfalls müsste man auch zugegeben, dass die deutsche Bundesregierung sich spätestens mit der kostenlosen Lieferungen hunderter gepanzerter Fahrzeuge und tausender kleinkalibriger Waffen aus DDR-Waffenbeständen Anfang der 90er Jahre an die Türkei direkt mitschuldig macht an den Verbrechen gegen die kurdische Bevölkerung in dem Land.
Strategien zu Vermeidung eines Politikwechsels
Sowohl die umgehende Zurückweisung des Vorwurfs direkter Unterstützung Deutschlands für türkische Kriegshandlungen, als auch die aktuelle Scheindebatte um Äußerungen des türkischen Innenministers verdeutlichen, dass große Teile der deutschen Politik derzeit nicht dazu bereit sind, eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen des türkischen Partners und der direkten Verwicklung Deutschlands in eben diese Verbrechen zu führen. Nicht nur die deutsche Bundesregierung, auch Oppositionspolitiker wie Cem Özdemir oder beratenden Institutionen wie die SWP scheinen vor den Folgen einer derartigen Debatte zurück zu schrecken. Denn sie wissen um die kritische Haltung weiter Teile der Zivilgesellschaft Deutschlands bezüglich der deutsch-türkischen Beziehungen und der Waffenexporte deutscher Rüstungsunternehmen in Länder wie die Türkei und Saudi-Arabien. Für die Zivilgesellschaft in Deutschland und kritische Stimmen innerhalb der Parteienlandschaft kann dies nur bedeuten, die Kritik an der Haltung der deutschen Bundesregierung noch selbstbewusster und häufiger zu äußern.