Gemeinsam kämpfen, aber wie?

Anschließend an den Kommentar von Ali Çiçek zur Tag-X-Diskussion im Falle einer militärischen Invasion der Türkei in Nordsyrien meldet sich Arif Rhein zu Wort und plädiert für eine strategische Erweiterung des taktischen Aktionismus.

Gemeinsam zu kämpfen bedeutet gemeinsam die Demokratische Moderne aufzubauen. Das ist die strategische Dimension der Zusammenarbeit der kurdischen Freiheitsbewegung mit den demokratischen Bewegungen dieser Welt. In Verbindung mit den tagespolitischen Entwicklungen ergeben sich gemeinsame taktische Ziele. Ohne taktischen Aktionen wie gemeinsamen Erklärungen, Demonstrationen oder Konferenzen ihre Wichtigkeit abzusprechen, ist es wichtig sich stets in Erinnerung zu rufen: Die gemeinsame Strategie ist die Verdrängung des Staates durch die Demokratische Moderne. Das bedeutet die Verbreitung des Geistes der Demokratischen Nation und den Aufbau konkreter Strukturen Demokratischer Autonomie.

In der gemeinsamen Praxis der kurdischen Freiheitsbewegung und anderen demokratischen Bewegungen in Deutschland zeigt sich immer wieder, dass der Fokus zu stark auf taktischen Überlegungen liegt: Wann machen wir die nächste Demonstration? Was passiert an Tag X? Wer organisiert die nächste Veranstaltung?

Spätestens seit dem Widerstand von Kobanê sind kurdische und deutsche Aktivist*innen enger zusammen gerückt. Es wurden viele wertvolle Erfahrungen miteinander gesammelt, die den gemeinsamen Widerstand in Deutschland auf ein ideologischeres Niveau gehoben haben. Trotzdem müssen wir selbstkritisch feststellen, dass auch heute noch viele von uns auf taktischen, kurzfristigen Zielen beharren. Es zeigt sich ein Widerstand gegen eine gemeinsame Strategie. Das bedeutet letztendlich, dass wir uns dem Aufbau der Demokratischen Moderne bewusst oder unbewusst verweigern. Wer auf kurzfristigen Zielen beharrt und den Aufbau einer Alternative zur kapitalistischen Moderne verweigert, dem – vorausgesetzt die Grundhaltung ist wohlwollend – fehlt es wahrscheinlich an einem umfassenden Bewusstsein für die Probleme unserer Zeit und die Dringlichkeit einer Lösung.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, erlaubt uns die Verdrängung oder oberflächliche Behandlung der Probleme der kapitalistischen Moderne, uns zurückzulehnen und in alten Mustern zu verharren. Je umfassender und konkreter wir uns jedoch der Probleme unserer Zeit bewusst werden, desto entschlossener und kreativer werden wir an einer Alternative zu dem System arbeiten, das die Probleme hervorruft.

Staat und Macht

In seiner dritten Verteidigungsschrift Soziologie der Freiheit widmet sich Abdullah Öcalan der Frage, wie konkret die Demokratische Moderne beschaffen sein muss, um eine Alternative zur Kapitalistischen Moderne darzustellen[1]. Philosophische Überlegungen zu Wahrheit und Freiheit und ein Bewusstsein für die jahrtausendealten Kämpfe zwischen Staat und Gesellschaft bilden die Grundlage für die konkreten Vorschläge, die Öcalan für den Aufbau der Demokratischen Moderne macht. Er benennt in dem Buch zwölf grundlegende gesellschaftliche Probleme, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben und heute die Krise der Kapitalistischen Moderne ausmachen: Macht und Staat, Moral und Politik, Bewusstsein, Ökonomie, Industrialismus, Ökologie, der Komplex von Sexismus-Familie-Frauen-Bevölkerungsentwicklung, Verstädterung, Klasse und Bürokratie, Bildung und Gesundheit, Militarismus und zuletzt das Problem von Frieden und Demokratie. Eine ausführliche Erläuterung der Probleme würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Wichtig ist zu verstehen, dass all diese Probleme miteinander zusammenhängen und dieselbe Quelle haben, nämlich Staat und Macht.

Die Kapitalistische Moderne ist die aktuellste Form dieses 5000 Jahre alten Problems. Öcalan führt die Krise der Kapitalistischen Moderne auf jahrtausendealten Probleme des staatlichen Paradigmas zurück und zeigt in seinen Verteidigungsschriften zugleich, wie sie sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus in den letzten 500 Jahren vertieft und erweitert haben. Mit dieser ganzheitlichen und historischen Analyse der kapitalistischen Krise macht Öcalan uns bewusst, dass unsere Antwort weder in kurzfristigem Aktionismus noch in der Lösung einiger weniger dieser Probleme liegen kann.

Sowohl in dem Buch Soziologie der Freiheit, als auch in der vierten (Die Krise der Zivilisation im Mittleren Osten und die Lösung der Demokratischen Zivilisation) und fünften Verteidigungsschrift (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation) widmet sich Öcalan deshalb intensiv der Entwicklung einer Alternative zu Staat, Macht und Kapitalismus. Wir würden einen großen Fehler begehen, wenn wir seine Überlegungen nur als Lösung für Kurdistan oder den Mittleren Osten verstehen. Sowohl die historische Herleitung als auch die Beschreibung der aktuellen Krise der Kapitalistischen Moderne und die daraus entwickelte Lösung der Demokratischen Moderne bieten eine strategische Handlungsanleitung für alle demokratischen Bewegungen dieser Welt. Wer sich intensiv mit den Schriften Öcalans auseinandersetzt, wird letztendlich zu diesem Schluss kommen.

Aufbau zum gemeinsamen Ziel machen

Zurück zu der Frage, die wir uns am Anfang gesellt haben: Wie gemeinsam kämpfen? Obwohl wir nur kurz andeuten konnten, wie weitreichend und historisch tiefgreifend Öcalans Analyse der Krise unserer Zeit ist, wird eins deutlich: Solange wir den Aufbau der Demokratischen Moderne nicht zu unserem gemeinsamen Ziel machen, überlassen wir es dem systemischen Kräften eine Antwort auf die Krise der Kapitalistischen Moderne zu finden. So sehr wir den Staat und die Profiteure des Kapitalismus mit taktischen Interventionen stören, am Ende wird ausschlaggebend sein, ob wir eine Alternative anzubieten haben und die Kraft entwickeln können, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Welche Kraft sich daraus entwickeln kann, sehen wir heute in Rojava und den Arbeiten der kurdischen Freiheitsbewegung in anderen Teilen des Mittleren Ostens. Abdullah Öcalan macht in seinen Verteidigungsschriften einen konkreten Vorschlag für eine Alternative: den Aufbau der Demokratischen Moderne; und zwar hier und jetzt unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Nehmen wir uns dieses Vorschlages an, bedeutet das für uns in Deutschland den taktischen Aktionismus um strategische Arbeiten im Rahmen des Paradigmas der Demokratischen Moderne zu erweitern. In dem Buch Soziologie der Freiheit zeigt Öcalan mit seiner Analyse der zwölf Probleme unserer Zeit ganz konkret, wo wir anfangen müssen.


[1]Öcalan hat dieses Buch bereits vor Rund zehn Jahren auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali verfasst. Voraussichtlich nächstes Jahr wird die deutsche Übersetzung des Buches vorliegen. Damit werden sicherlich auch unsere gemeinsamen Diskussionen über den Aufbau der Demokratischen Moderne erweitert und intensiviert werden.